Hundert Meter an der Schmerzgrenze im Sommer


Die Schweiz im Medaillenspiegel vor Russland, Kanada und den USA! In welcher Sportart ist denn solches möglich? Der Titel dieser Geschichte lässt auf etwas Medizynisches schliessen. Es handelt sich um die jährlich stattfindenden Sportweltspiele der Medizin, eine inoffizielle Weltmeisterschaft aller Medizinalberufe, aber im sportlichen, nicht beruflichen Sektor. Wer jetzt denkt, das ist etwas für die Jungen, sieht nur die halbe Wahrheit; denn die mittelalterlichen und uralten Kategorien sind genauso gut besetzt und die Teilnehmer nicht weniger fanatisch, übrigens auch bei den Frauen.

Bei meinen bisherigen vierzehn Sportweltspielen, auch Medigames genannt, hat es mit Ausnahme der völlig unvorbereiteten ersten Teilnahme im Hundertmeter-Sprint jeweils zu einer Medaille gereicht, so soll es doch auch 2019 in Budva, dem hübschen Badeort in Montenegro sein!

Es ist bis jetzt nicht bekannt, weshalb  Schweizerinnen und Schweizer an diesen Spielen immer extrem untervertreten sind. Da kommen mehr Frauen und Männer aus Argentinien, Japan, ja sogar Kasachstan oder Usbekistan als aus der viel näher gelegenen Schweiz. Vielleicht liegt es am viel restriktiveren Fiskus, dass trotz des wissenschaftlichen Begleitprogramms nicht alles als Fortbildung gilt? Beim Schreiben dieses Satzes realisiere ich, weshalb der Ursprung dieser Spiele in Frankreich liegt, ich denke, es sind nicht nur sportliche Gründe, die Französischen Steuerämter ticken wahrscheinlich anders.

Doch dieses Mal ist Montenegro dran, ein fantastisches Land mit hohen Bergen, aber auch wunderbaren Stränden. Umrahmt wird dieser hervorragende Eindruck von einer enormen Gastfreundschaft, von der wir viel lernen könnten. Obwohl auch mit Tennisschläger und Pétanque-Kugeln angereist, ist der persönliche sportliche Höhepunkt der Hundertmeter-Sprint. Dass zwischen der Startnummern-Ausgabe und dem Wettkampf nur gerade eine Viertelstunde liegt, ist ein kleiner Schönheitsfehler; denn völlig überraschend werden zuerst die Kategorien der Alten aufgerufen, und mit siebenundsechzig Jahren gehört der Hot-Doc, wie ihn der Ex-Fussballer und aktuelle Wil-Trainer jeweils bezeichnete, mittlerweile zur zweitältesten Gruppe, oder viel schöner tönend, zur sechstjüngsten Gruppe.

So geht‘s dann halt schon bald an den Start, nahezu unvorbereitet, mit angezogenen Nagelschuhen, aber keineswegs angezogener Handbremse. Da die Nagelschuhe in der laufenden Saison trainingshalber erst dreimal geschnürt wurden, wären sie wohl besser in der Tasche geblieben. Dem katapultähnlichen Start folgt ein Steigerungslauf bis etwa siebzig Meter, als ein Blitz in die rechte Fussohle einschlägt. Ein ganz kurzes Zögern und dann die Gewissheit, dass der Fuss bei nahezu dreissig Stundenkilometern hält, lassen auch die Restdistanz noch überwinden, und mit der Zeit von 13.19 sind nicht nur die Konkurrenten geschlagen, sondern dies wäre auch gleich noch Schweizer Rekord bei den Ü 65, erkauft allerdings mit einer schmerzhaft gerissenen Plantaraponeurose.

Trotz des rezidivierenden Siegs der Jünger von Hippokrates in der Schweizer TV-Sendung ‚Ärzte vs Internet entscheidet sich der Hot-Foot-Doc für Dr. Google, der ihm beruhigend versichert, dass nichts Operatives indiziert ist, und dass der ‚Return to Sport‘ meistens nach mehreren Monaten der Fall ist. Dies ist zwar auch ein kleiner Schock, doch die Mitteilung, dass Payton Manning, der berühmte Quarterback der Denver Broncos trotz Riss der Plantaraponeurose kaum ein Spiel im American Football verpasste, lässt uns die Pétanque-Kugeln einpacken, um am gleichen Abend auf der sogenannten Bocci-Bahn die nächste Disziplin zu absolvieren. Das mit den sechs metallenen Pétanque-Kugeln war ohnehin spannend; denn wir erwarteten schon vor dem Abflug mit der Montenegro Airlines in Zürich eine Bombenstimmung beim Einchecken, doch scheinen Metallkugeln in einem Koffer der Normalität zu entsprechen.

Unsere Triplette ist also bereit, das Team besteht aus meiner Frau, dem altbewährten Tennis-Doppelpartner und pensionierten St. Galler Chef-Schulzahnarzt und mir. Das auf dem Programm stehende Pétanque kann beginnen, doch realisieren wir, dass die über zwanzig, aber gefühlt über hundert, Meter lange Bocci-Bahn viel eher einer italienischen Bocciabahn als einem französischen Boulesplatz entspricht, und dass ausserdem Kugeln bereitgestellt sind, die deutlich grösser und doppelt so schwer sind als unsere eigenen, unnötigerweise eingeflogenen, Pétanque-Kugeln. Die beiden französischen Teams, gegen die wir in den beiden Vorrunden äusserst knapp verlieren, und die später im Final um Gold und Silber kämpfen, belehren uns, dass diese Sportart in Frankreich Pétanque Lyonnaise heisst, und die Kugeln mit viel Anlauf geschossen werden. Für mich ist dies so etwas wie ein schwarzer Schimmel; denn Pétanque stammt von den Wörtern Pes tancus, also fixierter Fuss. Nehmen Sie mal Anlauf mit zwei fixierten Füssen und einer gerissenen Sehnenplatte am Fuss! Die Medaille im Pétanque wird deshalb an die Algarve verschoben, wo die nächsten Medigames ausgetragen werden.

Da Dr. Google ohnehin immer recht hat, werden aller Voraussicht nach auch keine gesundheitlichen Probleme anstehen, ausser es werden noch mehr Pandemie-Viren auf den Markt gestreut. Googeln Sie doch mal die drei Buchstaben BAG, deren Hauptaufgabe der Schutz der öffentlichen Gesundheit ist, aber auch für ein leistungsfähiges, bezahlbares Gesundheitssystem einstehen, die verlorenen Milliarden lassen grüssen.