Die Tomatencrème-Suppe


Schon in der Frühe ein morgengraues Erwachen, oder eher ein grauenhaftes; denn an diesem Freitag droht dem Neupensionär die alleinige Küchenverantwortung für das Mittagessen. Die letzte Hoffnung, dass meine Frau noch Mitleid zeigen könnte, entschwindet schon beim Frühstück, in dem mir erklärt wird, wo im Migros das Fleisch, das Gemüse, das, das…. zu finden ist. Migros war zwar mein grossartiger und grosszügiger Mit-Arbeitgeber, mir träumt jetzt aber vom Mitesser oder besser von der Mitesserin, die während der vergangenen rund vierzig Jahre die absolute Küchenhoheit innehatte, und ich keinesfalls dieses Hoheitsgebiet als eroberungswürdig anschaute. Die Verantwortung für Grilladen und Tranksame genügte während Jahrzehnten vollauf, zumal die Besuche ohnehin jeweils das feine Fleisch und den wohlausgesuchten Wein lobten.

Trotz frischem Brot mit Honigaufstrich und Zucker im Kaffee schmeckt das Frühstück nicht süss, sondern liegt wegen des Gedankens ans Mittagessen schon jetzt schwer auf dem Magen. Der Säureblocker als Stressulkus-Prophylaxe kann gerade noch vermieden werden, in dem ich voller Energie das Handy (nicht etwa das zum Abwaschen) in die Hand nehme, um Kochrezepte zu googeln. Der Gedanke an eine selbstgemachte Tomatencrème-Suppe wird nämlich immer konkreter. Bei der Eingabe von Tom… erscheint aber zuerst Tom Cruise statt der Tomaten, immerhin heisst es unter seiner Hauptrolle in Top Gun «Sie fürchten weder Tod noch Teufel», was mir enorm Mut macht, elektronisch zur Tomatencrème-Suppe vorzudringen. Die Zubereitungszeiten von sechzig Minuten, Zugaben von Knoblauch und die mageren Bewertungen von nur dreikommafünf von fünf möglichen Punkten lassen meine Gedanken an Tomatencrème-Suppe verdunsten, bis ich jäh aus meinen Träumereien erwache, in dem mir von meiner Mitesserin in spe ein Kochbuch mit sage und schreibe 1264 (eintausendzweihundertvierundsechzig!!) Seiten vorgelegt wird. Tomatencréme-Suppe kurz gelesen und ab aufs Fahrrad, da ich frische Tomaten auf dem Markt und das Fleisch in meiner bevorzugten Metzgerei kaufen möchte. Diese Metzgerei wurde bisher jeweils nur an Weihnachten für das Fondue Chinoise berücksichtigt. Der gewiegte Leser merkt es schnell, es fehlte bisher die nie erstrebte Küchenhoheit, die auch die Einkäufe regelte.

In der berühmten St. Galler Metzgerei, geführt von einem meiner Patienten, der aber so gesund war, dass ich ihn in der Praxis kaum je zu Gesicht bekam, erschrecke ich zuerst wegen der vielen Leute, die herumstehen und diskutieren, einer sogar mit einer Kamera bewaffnet. Sie sind zwar sehr höflich und bedanken sich herzlich, ich werde aber den Gedanken nicht los, dass es sich hier um eine Vegetarier-Gruppe mit Veganer-Gedanken handelt; denn sie ziehen ohne Fleisch von dannen. Ja, dann bin ich also an der Reihe. «Was ganz Feines zum Grillieren», mein Wunsch lässt sofort alle Mienen der drei Metzger aufhellen, sie kommen ins Schwärmen und überzeugen mich vom marinierten Kalbshohrücken. Je sechs Minuten braten auf jeder Seite, und schon hellt sich auch meine eigene Miene auf, das Mittagessen wird in gut zehn Minuten zubereitet sein. Ob ich sonst noch was möchte: «Ja gerne, die Gewürzmischung, die so gut gegen Krampferscheinungen beim Sport nützt». Die Köpfe aller Kunden schwenken ungebremst sofort zu mir herüber. Das ist beste Arbeitsbeschaffung mit all den Torticollis-Fällen (Halskehren), die folgen werden. Die Augen gross, der Mund weit offen, nicht nur der Hals, sondern auch in Gedanken verdreht, wenn einer in die Metzgerei kommt, um seine eigenen Muskeln zu behandeln, statt sich nach Muskelfleisch  und Entrecôte zu erkundigen. Es wird sich zeigen, ob der Tipp vom Tenniskollegen wirken wird. Mindestens der Metzger zeigt seine grosse Freude und Stolz, in dem er mir seine hauseigene Gewürzmischung empfiehlt.

Lächelnd, ob all der Metzgerei-Gedanken an Vegetarier und krampfgeplagte Hausfrauen, schwinge ich mich aufs Fahrrad, um zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder einmal den Markt zu besuchen. Bio-Tomaten, das Kilo für über sechs Franken, schockieren mich dermassen, dass ich sofort an den Kauf einer Flasche Ketchup statt an Frischgemüse denke. Zum Glück erkundige ich mich auch noch am Stand daneben. «Tomaten für eine Tomatencrème-Suppe, ja genau die richtigen sind diese roten». Ich nehme ein Kilo davon, und schon wieder neigen sich alle Köpfe zu mir hin, sicher nicht vor Ehrfurcht, sondern wahrscheinlich aus Mitleid, da die erfahrenen Hausfrauen mit Sicherheit wissen, wie lange dieser arme Tropf in der Küche stehen wird. Als ich dann noch eine einzige Zwiebel und zwei Kartoffeln kaufe (mehlige werden mir für die Suppe empfohlen), interpretiere ich das Lächeln meiner Nachbarinnen nicht mehr nur als Mitleid für einen Hobbykoch, sondern eher für einen von Wahnideen Besessenen. Der Kollege vom Panathlonclub, der gerade mit seinem Kind die Bank am Marktplatz besucht, um wohl eher Geld zu holen, als wie ich es eventuell sinnlos auszugeben, bringt mich wieder zurück in die Realität, und dass es höchste Zeit wird, meine Einkäufe in eine Speise umzuwandeln.

Das dicke Buch ist zu Hause auf dem Küchentisch immer noch aufgeschlagen, so dass ich jetzt genau lesen kann, wie die Suppe zubereitet wird. Schnell die Tomaten schälen, entstielen und entkernen. Schnell? Weder der Trick mit heissem Wasser noch die Anwendung diverser Rüstmesser hilft in irgendeiner Weise, das Tomatenchaos auf dem Küchentisch zu vermeiden, der Gedanke an eine Blutlache ist nachvollziehbar. Dann die Zwiebel und zwei Kartoffeln (oh, wie freue ich mich, so wenig verarbeiten zu müssen trotz der mitleidvollen Blicke beim Einkaufen), andünsten, zwanzig Minuten weiterdünsten, eine Stunde aufkochen…. Eine Stunde aufkochen, das macht ja schon weit über eine Stunde präparieren. Dabei lehnte ich doch am Vormittag die digitale Variante mit 60 Minuten ab, ja immerhin habe ich die Chance, mir selber fünf von fünf möglichen Punkten zu geben. Dass ich die Suppe mit den Gemüsestücken drin nicht mit der elektrischen Salatraffel «mixe», ist einem Zufall zu verdanken, in dem mir gerade noch rechtzeitig von der abgesetzten Küchenchefin der Stabmixer gezeigt wird. Die Küchenwände mit Tomatencrème tapeziert, dann hätte ich ein Video gedreht statt eine Geschichte geschrieben.

Die Stunde aufkochen ist bestens geeignet, das übrige wie Salat und Teigwaren zu präparieren und natürlich das Fleisch für die Grillade bereit zu machen. Diese zwölf Minuten auf dem Gasgrill sind immer noch das einzige, was ich wirklich im Griff habe. Doch Beharrlichkeit führt bekanntlich zum Ziel.  Das Timing, dass alles auf die Minute genau miteinander fertig ist, gelingt hervorragend. Dann also auftischen. Aber das darf ja nicht wahr sein, vor lauter Tomatencrème-Suppe, die mittlerweile auch noch berahmt wurde, habe ich vergessen, dass es sich um eine Suppe handelt, die nie und nimmer zusammen mit grilliertem Fleisch und Teigwaren serviert wird. Dann halt das Fleisch noch etwas niedergaren, und die Teigwaren etwas abkühlen lassen, und das Essen ist tatsächlich zubereitet. Das Lob wegen der hervorragenden Suppe ist sogar echt, auch gebe ich mir selber vierkommaneun Punkte, doch leider ist die feine, mit soviel Zeitaufwand und Buch- und Bauchvertrauen zubereitete Tomatencrème-Suppe nach drei Minuten im Magen verschwunden. Wäre ich doch lieber eine Kuh, da könnte ich sie, als mit mehreren Mägen versehener Wiederkäuer, wenigstens zweimal geniessen. Der nachfolgende Kalbshohrücken ist ausgezeichnet und lässt jedes zeitbedingte Suppen-Mitleid sofort verschwinden. Statt einem Dessert gibt es aber den absoluten Tiefschlag, das sogenannte Tomaten-k.o. Mir wird nämlich die pulverisierte Tomatencrème-Suppe Bon Chef aus sonnengereiften Tomaten und feinstem Basilikum gezeigt, Zubereitungszeit zwei Minuten. Das nächste Mal gehe ich in die Migros!