Recycling


«Hast Du das schon einmal gemacht?» So lautet die typische südfranzösische Frage vom einen an den anderen Handwerker. Doch leider verstehen die Petits-Suisses die negative Antwort und beschliessen, die Fenster im Altstadthaus selber in Doppelglasfenster umzuwandeln, zumal solche damals in Südfrankreich noch gar nicht existieren. Bezüglich Dezibelreduzierung nächtlicher Lärmimmissionen wie Kehrrichtsammlung oder Hochdruck-Strassenreinigung hätte es aber nicht nur Doppelglasfenster  bedurft, sondern wahrscheinlich ganze Lärmschutzwände, wie wir sie von Autobahnen her kennen.

Wir werden so zu Spezialisten im Fenster Ausmessen und lernen Begriffe wie Lichtmass, Laibung, Anschlag und viele andere mehr, letzterer hat übrigens nichts mit der IS zu tun. Doch zeigen sich in diesem neuen Métier ungeahnte Probleme. Fenster sind in französischen Altbauten nämlich in verschiedenen Tiefen im Mauerwerk verankert, und die exakte Anleitung unserer persönlich bekannten Fenster-Firma Klarer wird für uns Laien immer unklarer, zumal das Grasser Mauerwerk den rechten Winkel nicht kennt, und die alten Fenster auch mal schräg angeschlagen wurden. Immerhin haben wir gelernt, dass wir keine Ostfriesen sind, die schlagen die Fenster nämlich von aussen an, das heisst sie fixieren sie aussen am Mauerwerk, damit der Wind die Fensterflügel einwärts in den Rahmen drückt.

Die Fenster für drei Stockwerke werden also millimetergenau hergestellt, obwohl die Messgenauigkeit im Dezimeterbereich liegt. Viel genauer verhält sich jedoch unser Staat; denn auf die Frage der Ausfuhr respektive Verzollung von Fenstern ist offenbar die erste Voraussetzung, dass man nichts verbrochen hat, und dabei sind nicht etwa Glasscheiben gemeint. Unser Leumund dürfte trotz studentischer Fichen nicht einmal so schlecht sein, aber die Bürokratie und Formularitis lässt so Schlimmes erahnen, dass ein Fensterschmuggel das kleinere Übel sein dürfte.

Bringen Sie mal dreizehn Fenster in einen alten VW-Bus! Das Auto wird zum Glück von der Fensterfirma geladen, und versuchen Sie dann noch eine ganze Familie hineinzuzwängen. Ein Ding der Unmöglichkeit! Für Frau und Töchter wird deshalb notfallmässig ein Bahnbillett gelöst, und die übrigbleibenden drei Männer, den Hund miteingerechnet, kuscheln sich auf  und vor der vorderen Sitzbank so zusammen, dass eine problemlose Ferienfahrt in den Süden Tatsache wird. Zwischen den eingelagerten Fenstern und dem VW-Bus-Dach wird nämlich noch das Schlauchboot gequetscht, so dass der Unterschied zu einem Ferien-Camper noch geringer wird.

Da damals noch aktive Grenzkontrollen stattfinden, um die wenigen Sans-Papiers zu erfassen und an der Einreise zu hindern, sind wir als echte Sans-Papiers des Fensterexports schon etwas nervös. Am Zoll in Chiasso will wie üblich niemand von uns Notiz nehmen, doch je näher wir dann der italienisch-französischen Grenze kommen, wird unser bis anhin normaler Herzschlag über Palpitationen und Extrasystolen zur Tachykardie. Am Zoll in Ventimiglia hat es um Mitternacht kaum mehr Autos, doch Zöllner en masse. Wenn die nur nicht auf die Idee kommen, unseren VW-Bus zu kontrollieren, und gar noch den vor der Sitzbank schlafenden Hund zu wecken. Schlaf, das ist der rettende Gedankesblitz, und sofort legt sich der Sohn schlafend in den Sicherheitsgurt. Der mit einer Taschenlampe bewaffnete Zöllner sieht das schlafende Kind und das obenliegende Schlauchboot und winkt unseren Schwertransport problemlos durch. Wow, das war knapp!

Anderntags folgen der Rest der Familie und die Spezialisten der Fensterfirma. Die Angestellten waren so begeistert vom Angebot, für einen Tag Arbeit mit der ganzen Familie zwei Wochen Sommerferien in Grasse zu machen, dass sie allesamt einen Flug auf die Malediven, in die Südtürkei und andere Feriendestinationen buchten und uns im Stich liessen. Was macht in einem solchen Moment der grandiose Firmenchef, er steigt selber in die Hosen. Und so kommt es, dass das Fensterbauteam aus dem Chef, seiner Ehefrau, dem Sohn mit Frau und Kindern, dem Schwiegersohn mit Frau und Kind, und unserer Familie besteht. Das Fachwissen besteht somit aus je zwei Lehrerinnen und Hausfrauen, einem Garagisten, einem Landwirt, einem Arzt und dem Firmenpatron, die allerbesten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Fenstertransplantation!

Als Vorbereitung fahren alle zuerst einmal an den Strand, um uns mental auf die Herkulesaufgabe vorzubereiten. Doch gegen Abend kommt Leben in die Bude. Das erste Fenster wird schon bald mit dem Rahmen aus der Wand gefräst und meiner Frau zur Entsorgung übergeben. Diese alten französischen Fensterscheiben bestehen aus lauter kleinen, mit Holz unterteilten, Glasscheiben. In mühevoller Kleinstarbeit werden diese Scheiben laut klirrend zerschlagen, damit sich dann niemand beim Leeren der Container verletzen kann. Das im Rahmen verbleibende Fensterskelett wird in den Abfallkontainer gehievt und seinem Entsorgungsschicksal überlassen.

In der Zwischenzeit wird schon das zweite Fenster entmauert und ebenfalls in Richtung Abfall-Container transportiert, aber nicht mehr zerstört, um nächtliche Ruhestörung zu vermeiden. Beim dritten Transport ist das Erstaunen riesig, da vom zweiten Fenster jegliche Spur fehlt. Da kann doch tatsächlich jemand alte Fenster gebrauchen, bevorzugt natürlich inklusive Scheiben, so dass alle unsere Fenster nur beim Container hingestellt werden und sofort weg sind. Daraus entsteht ein allseits amüsantes Fensterspiel mit Ausfräsen – zum Container Tragen – Verschwinden, die absolute win-win-Situation mit Null-Schadstoff-Umweltbelastung, die heilige Greta hätte ihre helle Freude daran und würde so ihr autistisches Asperger-Syndrom entsorgen können. Nach vier Stunden Arbeit ist ein Stock beendet und – den neuen Klarerfenstern sei Dank – haben wir einen glasklaren Durchblick auf die Grasser Gassen. Es ist nicht ganz geklärt, weshalb wir diese Nacht so hervorragend schlafen. Ist es der um viele Dezibel reduzierte Lärmpegel, die Müdigkeit nach strenger Arbeit oder der konsumierte Rosé?

Am Abend darauf folgt der zweite Stock, und der unbekannte Recycler ist offenbar auch wieder in den Startlöchern. Kaum ist das erste Fenster unten, ist es auch schon weg, eigentlich könnten wir ihm auch den Transport in unserem Treppenhaus noch überlassen, doch würde ja dann vielleicht auch noch mehr «entsorgt» werden. Dem Patron kommt dann noch die hervorragende Idee, dass wir die zwei kleineren Fenster selber aufbewahren sollten, und er uns nach der Rückkehr und dem Rücktransport in die Schweiz daraus zwei Kästchen erstellen werde. Diese zwei ausserordentlich hübschen und nützlichen Schränke hängen mittlerweile im Studio in Mandelieu und dienen der Unterbringung und Präsentation von vielen Gläsern. Dieses umweltschonende Grasser Recycling-Prinzip wird viele Jahre von uns praktisch angewendet, in dem offenbar alles in irgendeiner Form wiederverwendet werden kann. So geschehen auch bei entsorgten Rollschuhen, weil sich unsere Kinder lieber auf schnellen Inline-Skates bewegen. Nach zwei Tagen holen wir die zum benachbarten Schuhmacher gebrachten Schultheks, die er neu vernäht hat, ab und sind erstaunt, dass er nichts für seine Arbeit verlangt. «Er habe ja schliesslich drei Paar Rollschuhe von uns bekommen.» Der Marktplatz erhält in Grasse also tatsächlich wieder seine mittelalterliche Bedeutung als Warenumschlagplatz zurück, auch wenn es nur beim Cordonnier ist, wo statt wertvolle Gulden oder Dukaten für Leder oder Parfums und statt wertschwindende Euros für die Schultheks so brauchbare Waren, wie im vorliegenden Fall Rollschuhe, gegen wertvolle Arbeit umgesetzt werden. Es lebe das Recycling im alten und modernen Grasse.