Où est la gare?


Frühmorgens aufs E-Bike in die Boulangerie pour la baguette et le journal, Nice Matin genannt. Nomen est omen, an diesem Morgen wird Nizza tatsächlich eine spezielle Bedeutung haben. Vielleicht erinnern Sie sich, das ist die Boulangerie in La Napoule, in der es auch den Petit-Suisse zu kaufen gibt. Das frische französische Brot zum Frühstück ist das klare Symbol für Ferien in Frankreich. Das nachfolgende typische Zeichen ist dann die unweigerliche Gewichtsangabe auf der Waage zu Hause, dass trotz täglicher Bewegung und Sport der Zeiger um mindestens zwei Kilogramm nach rechts verdreht wird. Das Fahrrad ist also schon eingefahren, die Rucksäcke gepackt, und so geht’s los, die Morgensonne im Gesicht, Richtung Osten, mit dem Ziel Monte Carlo. Die fünf ausgefüllten Querbalken auf dem Velotacho sprechen für viel gespeicherte Energie, die wohl locker von Mandelieu nach Monte Carlo reicht. Wer E-Bike fährt, weiss wie sparsam man mit Energie umgeht, man fährt demnach mit minimaler Unterstützung um maximal weit zu gelangen und wundert sich dann anderntags über den starken Muskelkater.

Schon die erste Strandstrasse nach Cannes hat es in sich, in dem die Autos um Haaresbreite neben den Velos vorbeisausen. Doch im Stau vor und in Cannes werden alle, mittlerweile höchstens Schrittempo fahrenden, vierrädrigen Raser von den Fahrrädern wieder überholt. Die Hauptgefahr kommt aber nicht mehr von den Autos sondern von daher brausenden Velogruppen, Gümmeler genannt, die im Frühjahr in Südfrankreich ausschwärmen wie bei uns die Bienen. Und da Bienen kaum in Einerkolonne fliegen, verdrängen die Gümmeler alles was sich auf dem mittlerweile abgetrennten Fahrradweg bewegt, als Alternative für die E-Biker gäbe es noch den Sprung ins kalte Meer oder den Schwenk auf die Hauptstrasse, wobei bei ersterem die Überlebenschance unweigerlich grösser wäre. Mit Konzentration, Ausdauer und auch egoistisch-narzistischem französischem Fahrstil geht’s am Flugplatz von Nizza vorbei, wobei lebensgefährliche Stoppstrassen überquert werden müssen, die zum Teil gar nicht gekennzeichnet sind. Doch sind uns unsere KTM und Flyer auf dem Boden momentan lieber als Easyjet, Air France und was wir alles in der Luft sehen.
Endlich die erholsame, viele Kilometer lange und äusserst breite Strandpromenade von Nizza, Promenade des Anglais genannt. Die Geschwindigkeitslimite von zehn Stundenkilometern setzt einem zunächst in Erstaunen, doch wird dies umso klarer, je näher man in Richtung Zentrum fährt. Die Strandpromenade ist so dicht begangen und befahren, als ob der Triathlon von Nizza zu einem Duathlon gewechselt hätte und kurz zuvor gestartet worden wäre. Doch auch hier werden alle menschlichen und anderen Hindernisse problemlos umkurvt, so dass schon bald der letzte Abschnitt mit der landschaftlich phantastischen Strasse nach Monaco folgt, meist etwas in der Höhe, den Felsen entlang aber auch durch romantische Tunnels.

Wie merkt der Fahrradfahrer, dass er in Monaco ist? Die Strassen werden befahrener, alles wird wieder enger, die Autos vornehmer, Ferraris, Bentleys und Rolls Royces sind an der Tagesordnung, und niemand nimmt Kenntnis davon, dass eigentlich zwei Schweizer auf ihren E-Bike-Rolls Royces in Monaco angekommen sind. Unser Ziel ist das Monte Carlo Tennis Masters Turnier. Mit Monte Carlo wird der Stadtbezirk in Monaco bezeichnet, der durch sein Casino berühmt ist und durch den grösstenteils der Formel 1 Grand Prix von Monaco führt. Da Monte Carlo nicht einmal ein halber Quadratkilometer gross ist, kann es nur in die Höhe und nicht in die Breite wachsen. Offenbar verlieren deshalb sogar die einheimischen Polizisten jeglichen Orientierungssinn. Auf die Frage, wie wir auf dem Fahrrad am schnellsten zum Tennisturnier gelangen, erhalten wir die Antwort: „Mon dieu, c’est directement à droite, c’est ecrit !“, was etwa heissen will, ob wir Deppen eigentlich blind seien. Doch leider handelt es sich dabei um das grosse Parkhaus unter dem Schloss, mindestens fünf Kilometer vom Tennis entfernt, und ein Shuttlebus in dieser Stadt wäre wohl das letzte, da lassen wir uns lieber auf unseren Stahlrössern noch weiter durchschütteln.

Die vielen VIP-Zelte und hohen Tribünen lassen es erahnen, dass wir in unmittelbarer Nähe eines Gossanlasses sind, die vornehmen Angestellten in schwarzen Kleidern und Krawatte sind dann der endgültige Beweis. In Erinnerung der ungültigen Schwarzmarkttickets vom Vorjahr eilen wir diesmal direkt zu einer Kasse, allerdings im Bewusstsein, dass es im Internet gar keine freien Plätze mehr hat. Überraschenderweise können wir uns sogar noch die Plätze aussuchen. Ich glaube kaum, dass der Schweizer Sonnenhut und die extra für diesen Zweck angezogene Swiss Olympic Jacke etwas dazu beigetragen haben, vor einem Jahr beim Zutritt zum rein Schweizer Federinka-Final hatte es auch nichts genützt. Roger und Stan bekommen wir zwar nicht zu Gesicht, ihr Auftritt war wohl wegen des befürchteten direkten Aufeinandertreffens im Viertelsfinal ohnehin sehr kurz, doch entschädigen uns der nachmalige Sieger Djokovic und Tsonga mit überzeugenden Auftritten. Dies ist Motivation genug, um in der Schweiz einmal mehr die Interclub-Saison bei den Veteranen bald in Angriff zu nehmen.

Nach den zwei erlebten Einzelspielen steht unser persönliches Kamikaze-Doppel vor der Tür, in dem wir versuchen, mit unseren beiden E-Bikes den Bahnhof zu finden. Erstaunlicherweise sind unsere Fahrräder noch genau dort deponiert, wo wir sie unmittelbar neben dem Eingang hingestellt hatten. Vor dem Eingang stehen mehrere Polizisten und Sanitäter, die uns zuerst fürchten lassen, unsere Bikes „aufgeräumt“ zu haben. Sie kümmern sich aber zu unserem Glück nur um einen kollabierten Zuschauer. Auf unsere Frage „où est la gare du tennis?“ bekommen wir sowohl von den Polizisten als auch den internen Ordnungshütern nur ein Kopfschütteln als Antwort, dabei wissen wir vom Vorjahr her, dass es einen Extra-Bahnhof mit Tennishalt gibt. Ja so stossen, radeln und kratzen wir uns an den stehenden Autos in den engen Gassen vorbei, zuerst in Richtung Italien, dann in die Gegenrichtung, von einem Zug selbstverständlich weit und breit keine Spur. „Où est la gare?“ wird unsere ständige Frage, sie muss immer häufiger gestellt werden, da die empfohlenen Richtungsangaben sich jeweils in einer Spannbreite von 360 Grad bewegen. Selten zählen wir auch 360 Grad Umdrehungen an unseren Pedalen, zum Glück bleibt der linke Fuss meist unten, wenn wir rechts an den stehenden Fahrzeuen vorbeischleichen, so auch am Auto mit dem grossen B. Wir erbleichen, als wir realisieren, dass dies ein Bentley ist, dessen Kratzer in der Karosserie wohl zehntausende von Euros wert wären.

„Parking de la Gare“! Der Leser merkt es, dass wir mittlerweile mit dem normalen Bahnhof zufrieden sind, beim Tennis haben wohl eher die Spieler grossen Bahnhof, aber für die Zuschauer gibt es nichts. Immerhin, wo das Parkhaus ist, kann der Zug auch nicht mehr weit sein. Der Zugang zu den Geleisen ist für die Rollstühle im dritten Stock gekennzeichnet. Also mit dem Lift runter in den dritten Stock, doch leider ist der Lift nur ein Drittel so gross wie ein Fahrrad. Dann halt die drei Stöcke runter biken, zum Glück nicht alle vierzehn Stockwerke. Doch zu unserem grossen Bedauern gibt es im dritten Stock ausser besagtem , viel zu kleinen, Lift keinerlei Zugang zu einem Bahnhof, geschweige denn zu Geleisen. Elf Stockwerke runter oder drei wieder raufradeln, wir entschliessen uns für letzteres. Wir sind also wieder bei „où est la gare?“

Leider haben wir uns nicht entschieden, die Räder zu demontieren, ähnlich wie früher, als wir noch Velosäcke füllten. Die abgenommenen Räder hätten uns noch einige Energie gespart. Wir entschliessen uns, aussen herum zum Bahnhofeingang zu fahren, wobei jede andere Lösung besser gewesen wäre, sogar der akute Drehschwindel nach vierzehn umrundeten Stockwerken. Statt einer nicht vorhandenen Kurve in der Strasse fahren wir auf direktem Weg in einen geraden Autotunnel, der uns von den Formel 1 – Übertragungen bekannt scheint. Der Überlebenstrieb wird plötzlich so gross, dass auch dieses Hindernis gemeistert wird und wir zu unserem eigenen Erstaunen direkt vor der Eingangstür des Bahnhofs stehen. Na dann nichts wie los, hinein, dem langen Korridor entlang, bis zur langen Rolltreppe. Wegen fehlender Velotechnik auf Rolltreppen und noch weniger Erfahrung damit, brauchen wir etwas länger, so dass wir dann genau auf der Anzeigetafel lesen können, dass der Zug nach Cannes exakt in diesem Moment auf Perron drei abfährt. Dann halt fünfundzwanzig Minuten später auf Perron drei. Was wir aber erst jetzt realisieren, ist die Dysfunktion resp. der vollständige Ruhestand der Rolltreppe hinauf zu Perron drei. So tragen wir die schweren E-Bikes die lange Treppe rauf, im Bewusstsein, in den nächsten Monaten kein Krafttraining machen zu müssen, da die Arme ohnehin erlahmen. Wir kommen also ohne Arme und rasendem Puls oben an und geniessen die wenigen Leute auf dem Perron, da ja der Zug soeben abgefahren ist. Anschliessend scheint es jedoch, dass sich der am Morgen gestartete Duathlon von Nizza zu einem Marathon von Monte Carlo entwickelt hat, bei dem alle Teilnehmer auf Perron drei eilen. Man kann deshalb kaum mehr stehen, als der Zug endlich einfährt, um anschliessend seine Türen zu öffnen. Kaum einer steigt aus dem ohnehin schon vollen Zug aus, aber hunderte drängen hinein, auch die zwei E-Biker mit ihren unendlich gross scheinenden Vehikeln. Irgendwie schafft es jedoch die automatische Türe sich zu schliessen und uns noch mehr in die Speichen der Räder zu drücken. Der Zug ist übrigens schon bei der Ankunft so voll, da die andern am Gare du Tennis eingestiegen sind, wo denn sonst!

Da es sich um einen Regionalzug handelt, wird jede Station angepeilt, und die beste Idee ist, dass es abwechselnd den linken und den rechten Eingang braucht, wir also jedesmal, wie von einer Welle erfasst, alles auf der linken Seite, dann wieder auf der rechten Seite wegspülen. Mittlerweile realisieren wir, dass wir nicht nur beim winterlichen Skisport vollkommen von den Österreichern abhängig sind, sondern auch beim Zugfahren, in dem es sich um eine Wiener Ausflugsklasse handelt, die zwischen den beiden Eingängen mit uns zusammen ohne zu murren von Monaco nach Cannes surft. Kennen Sie die mittelalterlichen Foltermaschinen in den Verliessen der alten Burgen? Nach achtzig Kilometern auf dem Velo, zwei Stunden Tennis an brütender Sonne, zusätzlich einer Stunde „oû est la gare – Irrfahrt“, anschliessendem harten Training von Kraft und Stehvermögen und zuletzt anderthalb-stündigem Zugsurfen kommen wir genauso gerädert in Cannes an, wo wir uns so spitalreif fühlen, dass wir noch einen Besuch beim Dank Sport überlebenden Kollegen machen.