Mein lieber Schieber


Sie tippen falsch, wenn Sie an einen Jass-Event denken, obwohl mit diesem Jass eine hochinteressante Disziplin zum beliebten Schweizer Nationalsport avancierte. Schieber dürfte jedoch auch die Jassart sein, bei der am meisten unlautere zwischenmenschliche Schiebereien mit Zeichensprache, Augenzwinkern, Füsseln und anderen Tricks praktiziert werden. Vielleicht ist es ja gerade diese Doppeldeutigkeit und nicht nur das Hin- und Herschieben der Trumpfansage, die zu diesem Namen führte.

Mit «mein lieber Schieber» ist aber auch nicht das Essgerät aus meiner Kindheit gemeint, und schon gar nicht das flache Gefäss, das zur Aufnahme der Notdurft bei bettlägerigen Patienten dient. Vermutlich trauen Sie mir bei diesem Wort eher Hinweise auf Abzocker, betrügerische Geschäftemacher oder Spekulanten zu, was in politischer Hinsicht gar nicht so abwegig wäre. Doch wird die Sozialkritik an gewissen Ämtern und Politikern in diesem Büchlein schon genug ausgeschöpft.

«Mein lieber Schieber» war der typische Ausdruck meiner Schwiegermutter, wenn sie etwas sehr erstaunte, so im Sinn von «Du meine Güte», «Herrjemine» oder «Du lieber Schwan». Bei den aktuellen Umgebungsarbeiten fürs neue Tinyhouse in St. Margrethenberg im St. Galler Oberland liegt das Hauptproblem in einem ganz anderen Bereich. Ein Schieber wird nämlich benötigt, um Wasserleitungen zu unterbrechen, so dass dadurch die Wasserzufuhr geöffnet oder verschlossen werden kann. Sie haben in Ihrem Leben schon tausende solcher Schieber auf Trottoirs, an Strassen oder bei Häusern gesehen, ohne je realisiert zu haben, dass dies etwas mit Wasserleitungen zu tun hat. Sie sind als meist kleine Metall- oder Kunststoffdeckel sichtbar, die abgeschraubt oder abgehoben, eine drehbare Verschlusseinrichtung zeigen.

Das Problem bei diesen Schiebern ist jedoch, dass sie zum Teil unter der Erde liegen und sie im Notfall nicht gefunden werden. Auch die Stadt St. Gallen, zu deren Einwohnern wir mittlerweile nicht mehr zählen, wäre jeweils froh, bei Rohrbrüchen und meterhohen Wasserfontainen schnell einen Riegel zu schieben, Verzeihung einen Schieber verriegeln zu können, bevor die ganzen Strassen mit Asphalt, Beton, Steinen und Sand durch den enormen Wasserdruck verschoben und zerstört werden.

Die Wasserleitungen und ihre Schieber im St. Galler Oberland sind wie üblich genauestens auf Plänen eingezeichnet, doch dürften entweder die Zeichner oder die Konstrukteure ziemlich Gedanken-verschoben gewesen sein, wenn es um die Kommunikation an die Nachwelt ging. Tatsache ist, dass unser Bagger vor dem schon bestehenden Ferienhaus gräbt und gräbt, ohne je auf den gesuchten Schieber zu stossen, der möglicherweise unter der versteinerten Zufahrt des Nachbarhauses liegt. Mein lieber Schieber, liegst Du denn wirklich so tief, dass die laufende Baggerbohrung bald auf Erdöl oder Erdgas stösst? Nicht einmal der Brunnenmeister mit dem Metalldetektor findet den Schieber, und auf meine Empfehlung der Wünschelrute geht ohnehin niemand ein. Wussten Sie, dass Brunnenmeister eine Spezialausbildung geniessen und einen eidgenössischen Fähigkeitsausweis benötigen? Die Verantwortung für unsere Trinkwasserversorgung ist berechtigterweise sehr gross.

In der Verzweiflung, dass weder ein Metalldetektor noch eine Wünschelrute Wasser- respektive Schieber-findend sind, wende ich mich schon bald an die Urologen unserer Klinik; denn die suchen, finden und flicken jede Wasserader und Röhre im Körper. Nur schade, dass ihre Endoskope für unser Anliegen zu kurz sind. Und so wie die Urologen bei Inkontinenz ein neues Ventil konstruieren, kommt uns die zündende Idee, bei der ohnehin schon freigelegten Wasserleitung einen neuen Schieber einzusetzen. Die Zukunft unseres wassererschlossenen Minihauses wäre also gerettet, unter der Voraussetzung, dass «mein lieber Schieber» schiebbar, respektive die Wasserleitung verschliessbar wäre. Sicherheitshalber halte ich den, die Erde um zehn Zentimeter überragenden, Schieberdeckel fotografisch fest, wobei in  diesem Moment klar wird, dass der alte, nicht mehr auffindbare, Schieber noch zu einer Zeit gebaut wurde, als nicht jedermann und jedefrau immer ein Handy mit Fotofunktion bei sich hatte.

Dieser überragende Schieberdeckel, der wie ein Pilz aus der Einfahrt ragt, würde aber leider zu einem gefährlichen Stolperstein, vergleichbar mit einer Landmine, nur dass beim Draufstehen eine Wasserfontäne statt vernichtendes Dynamit in die Höhe schiessen würde. Somit sehen alle Schieberlinge sofort ein, dass diese zehn Zentimeter wieder in den Boden gedrückt werden müssen. Deshalb wird draufgehämmert, doch bewegt sich der Deckel keinen Millimeter. So wird halt die Einfahrt neu zehn Zentimeter höher planiert, damit der Schieberdeckel nicht mehr vorsteht. Dies ist die absolute win-win-Situation, in dem die Einfahrt keinen Stolperstein mehr aufweist, und der bisher etwas schräge Pétanque-Platz waagrecht wird.

Zwei Tage später dreht der Sanitärinstallateur den Schieber zu, damit er trockenen Hauptes die Wasserleitung ans Minihaus anschliessen kann. Und er dreht und dreht und wäre wahrscheinlich immer noch am Drehen, wenn er nicht realisiert hätte, dass der Schieber leer dreht und in keiner Art und Weise die Wasserzuleitung abstellt. Somit muss der mittlerweile sich schon wieder im Tal befindliche Bagger erneut in die Höhe gefahren werden, was immerhin sechshundert Höhenmetern entspricht, um den eineinhalb Meter eingegrabenen Schieber für die Reparatur der verhämmerten Greifelemente freizulegen. Oh Wunder, jetzt ist er verschliessbar, und wir werden zukünftig ein ganz anderes Verhältnis zu fliessendem Wasser haben.

Bei solch gesichertem Wasseranschluss verschieben wir also getrost unseren Wohnsitz auf die Alp, wie wir so schön sagen, das benötigt ja nur ein Mail ans Einwohneramt der Stadt. Doch, wie schon in der vorhergehenden Geschichte beschrieben, lassen städtische Beamte einen jahrzehntelangen, guten Steuerzahler nicht so einfach aufs Land entfliehen, wenn er auch noch teilzeitlich in der Stadt arbeitet. Nach vielen Formularen und Bestätigungen wird der offizielle Status eines Wochenaufenthalters dennoch anerkannt. Eigentlich ist dies nur für Studenten vorgesehen. Jetzt wissen Sie, weshalb wir uns wieder so jung fühlen, und sich unsere städtischen «Steuergeschenke» offiziell in die Berge verschieben, «mein lieber Schieber!»