Die Flucht von Limone


Sie werden bald lesender Zeuge sein, dass es sich bei diesem Titel nicht nur um eine saure Zitrone handelt, sondern um einen Ort im südwestlichsten Zipfel des Piemonts, der für uns in einem finanziellen Fiasko hätte enden können, was uns noch viel saurer als zehn ausgepresste Zitronen aufgestossen wäre.

Die Treffen mit der Familie des ehemaligen Schulkollegen hatten es schon immer in sich und waren begleitet mit unvergesslichen Erlebnissen. Die unmöglichsten Treffen klappten immer irgendwie auf der Welt und zwar immer „am halbi“. So auch um halb neun am Bahnhof von Ventimiglia, in der Mitte unserer beiden Feriendomizile gelegen. Für insgesamt elf der dreizehn Lebewesen, darunter vier Erwachsene, sieben Kinder und zwei Hunde, kaufen wir ein Ticket nach Limone und wieder retour. Und schon sitzen wir im Zug in Richtung Tende, wo der gleichnamige Pass und Tunnel nach Limone führen.

Eine wunderschöne Fahrt im Tendebähnli, die uns zuerst nach Breil-sur-Roya führt, wo die Züge von Nizza andocken. Anschliessend das Tal der Roya hinauf beim Mercantour-Nationalpark vorbei und durch den acht Kilometer langen Tende-Tunnel hindurch, dessen Durchstich 1898 erfolgt war, nachdem jahrelange Streits zwischen Italien und Frankreich über die Streckenführung vorausgegangen waren. So wundert es nicht, dass die Verbindung zwischen Turin respektive Cuneo und Nizza respektive Ventimiglia erst 1928 offiziell eingeweiht werden konnte.

Kaum ist der Tunnel von uns eisenbahntechnisch bewältigt, folgt ein Bahnhof mit der grossen Tafel Limone. Wir also kurz vor der Wiederabfahrt mit Kind, Kegel und Hunden am Rausstürmen, das geht gerade noch einmal gut. So finden wir uns auf einem Bahnsteig wieder, der jeglicher Romantik entbehrt. Vom Betonboden des Bahnhof-Perrons bis hinauf zu den höchsten Gebäuden dieses angeblichen Ferienorts blicken wir nur auf grosse Betonklötze und vielleicht ab dem zwanzigsten Stock noch auf eine kleine Holzverschalung. Romantische Holzchalets und gemütliche Restaurants mit Sonnenterrassen sind Fehlanzeige. Wir stehen noch immer enttäuscht und entsetzt auf dem Bahnsteig, als wir einen einfahrenden Zug aus der Gegenrichtung hören. Eine kurze, zuerst non-verbale, dann mündliche Kommunikation lässt uns in Windeseile den offiziellen Entschluss fassen, sofort wieder in Richtung Ventimiglia aufzubrechen und diesen Zug quasi als Fluchtobjekt zu betrachten.

Nach etwa dreistündiger Zugsfahrt und fünfminütiger Bahnsteigspause sind wir also schon wieder in die Gegenrichtung unterwegs, im Bewusstsein, nochmals unsere Kinder und die beiden Hunde drei Stunden strapazieren zu müssen. Diese Strapaze steigt jedoch ins Unermessliche, als der Kondukteur unsere Fahrkarten kontrolliert. „Rien du tout est valide!“, also „alle sind ungültig!“ Voller Entrüstung und leider auch mit einem nicht überhörbar aggressiven Ton beschwert er sich, dass keine Entwertung stattgefunden habe, und somit unsere Retourbillette ungültig seien. „Für diese nicht gültigen Fahrkarten bekomme er fünfzig Euro pro Person!“ Ohne unsere kopfrechnerischen Fähigkeiten zu strapazieren, realisieren wir, dass bei vier Erwachsenen und sieben Kindern fünfhundertfünfzig Euro sich in nichts auflösen werden.

Wir spielen folglich zunächst Unschuldslämmer und loben den Schaffner für den gelungenen Scherz. Doch wird der gewiegte Leser schon erahnen, dass le conducteur die Nackenhaare stellt, und seine Augen eher einem feuerspeienden Drachen zugeordnet würden. A propos Nackenhaare, auch unsere beiden „blinden Passagiere“ unter der Sitzbank sind keineswegs blind, sondern beginnen zu knurren, als ob sie wüssten, dass sie die einzigen sind, die wirklich kein Ticket haben. Unser „psst“ bezieht der Schaffner auf sich und wird noch wütender. Auf diesem Siedepunkt folgt die Rettung, in dem der Zug in einen Bahnhof einfährt, und der Schaffner seinem Namen alle Ehre erweist, in dem er wirklich schaffen muss.

So kommt uns der Gedanke auf eine Flucht vor dieser immer drohenderen Finanzbehörde. Auf beiden Seiten steht jedoch ein Schaffner auf dem Bahnsteig und liesse uns kaum abhauen, schon gar nicht wegen der beiden, bisher unsichtbaren Hunde. Wir lassen uns also wieder nieder auf den zum Glück schmalen Bänken, unter denen wir umso besser die Hunde verstecken können. So kommt er nach jeder Station wieder, unser Lieblings-Kondukteur, schreit nach endlicher Bezahlung und verkündet „in Ventimiglia würden wir dann schon sehen…..“

Unsere finale Strategie lautet Erhalt der fünfhundert Euro und Überraschung bei zwanzig Tausend Euro, was übersetzt Ventimiglia heisst. Wir teilen uns also inmitten von vielen Zugsreisenden in zwei Gruppen auf, je von einem Hundeführer angeführt und verlassen den Wagen in entgegengesetzte Richtungen, da wir wissen, dass sowohl am Anfang als auch am Ende des Bahnsteigs eine Unterführung unseren Fluchtplänen entgegenkommt. Der Überraschungseffekt ist voll gelungen, in dem der Kondukteur und möglicherweise verstärkende Bahnbeamte nach einer grossen Gruppe Ausschau halten und keineswegs nach einer kleinen Gruppe mit Hund. Ob le conducteur an einer Kurzsichtigkeit leidet oder in eine Schockstarre geraten ist, wissen wir nicht, wir investieren jedoch einen kleinen Teil der fünfhundert gesparten Euro in einem nahe gelegenen Restaurant in eine süsse Limonade, statt uns wie Zitronen vom italienischen, vielleicht auch französischem, Staat auspressen zu lassen.