Die Düfte der Provence


Kennen Sie den Pawlow Reflex bei Hunden? Schon beim Herannahen des Besitzers, der seinem Hund üblicherweise das Essen bereitstellt, und erst recht beim Anblick des Essens, setzt beim Hund  der Speichelfluss ein. Und wenn Sie nicht gerade Jünger des vegano-vegetarischen Verbot-Rituals sind, passiert beim Menschen beim Anblick eines saftigen Steaks auf dem Grill genau das selbe. So riechen Sie doch jetzt schon den Duft des Lavendels, wenn Sie nur an die Provence denken.

In gewissen Gassen in Grasse fällt das einem viel leichter, denn man riecht tatsächlich die gerade verarbeiteten Blüten, die zu Eau de Cologne oder Parfum umgewandelt werden, je nach Jahreszeit Lavendel, Rosen oder Jasmin. Dies hat 1985 Patrick Süsskind in seinem schaurigen, ekelerregenden Roman «Das Parfum» so wirklichkeitsgetreu beschrieben, wie Jean-Baptiste Grenouille, seine Hauptfigur, von den olfaktorischen Reizen von Grasse zu Morden getrieben wurde.

Wir werden jeweils nicht zu Morden getrieben, sondern zum notfallmässigen Öffnen der Autofenster auf der Heimfahrt. Meine drei Kinder und ich werden nämlich jedesmal am Ferienende während der finalen Reinigung des Hauses von meiner Frau vertrieben, damit wir nicht im Wege stehen, und um schon gar nicht die gereinigten Böden wieder schmutzig zu machen. Unsere Flucht führt jeweils in die nahegelegene Parfumfabrik Fragonard, wo auf sechs Kindesarme und Handrücken gar nicht geizig Parfum respektive Eau de Cologne verspritzt wird. Diese Duftmuster sind auf den einzelnen Handrücken noch ganz akzeptabel, doch wenn dann Orangen, Lavendel, Jasmin, Rosen und die hundert anderen Düfte zusammen wirken, womöglich noch in einem geschlossenen Raum, ist der sehnlichste Wunsch auf der Heimreise schönes Wetter, so dass die Fenster geöffnet werden können.

Irgendwie haben wir jeweils diese Duftnarkosen überlebt. Vielleicht hat ja gerade dieser olfaktorische Dauerstress dazu geführt, dass der Chauffeur nicht von Schlaf übermannt wird. Möglicherweise kann man sich aber auch an Gifte gewöhnen, denn schon Paracelsus hat in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts herausgefunden, dass alle Dinge Gift sind, und die Toxizität allein durch die Dosis der Gifte bestimmt wird. Wenigstens braucht es zu Hause kaum Badezusatz oder Duschgel, da diese provenzalischen Düfte unglaublich resistent sind. Zum Glück spricht zu dieser Zeit noch niemand von CO2; denn eine solche Parfumschleuder auf der Autobahn mit einer so miserablen Bilanz, wird bald einem Marineangriff zum Opfer fallen, wenn die heilige Greta noch weiter auf hoher See bleiben sollte.

Ich hätte nie gedacht, dass sowohl Grenouilles Geruchssinn als auch unsere Parfum-Gase noch übertroffen werden können. Ein gut befreundeter Orthopäde bittet uns, aus Frankreich seinen Lieblingskäse, den in der Schweiz kaum erhältlichen Epoisses mitzubringen. Da  Wikipedia erst später konsultiert wird, wissen wir noch nicht, dass es sich beim im Burgund nach einem Spezialverfahren hergestellten Weichkäse um einen der stinkigsten der Welt handelt. Es war der Lieblingskäse von Napoleon. Und falls er ihn auch während Verhandlungen gegessen hat, ist klar, dass die Länderzuteilung nicht immer lupenrein war; denn die Gehirne seiner Gesprächspartner dürften mit Beginn der Ausschaltung des Riechorgans kaum mehr funktionstüchtig gewesen sein, so dass die Bündner noch heute dem verlorenen Veltlin nachtrauern, und die Bayern überrascht sind, dass ihnen von Napoleon nach der gewonnenen Dreikäseschlacht – Verzeihung Dreikaiserschlacht – von Austerlitz, das Tirol und Vorarlberg zugesprochen wurden.

Da Wikipedia jedoch vieles weiss, aber keineswegs Duftnoten verteilen kann, realisieren wir erst auf der Heimfahrt, dass es diesmal nicht der Lavendel ist, der unsere Riechzellen in der Nase belegt, sondern der Epoisses, der ganz einfach grauenhaft stinkt. Diesmal hätten wir bei Fragonard den ganzen Körper einsprayen sollen, doch hat uns niemand vor diesem Käse gewarnt, dank dessen sich jeglicher Restsauerstoff bei den autofahrenden Menschen verflüchtigt. Die Haupttätigkeit auf der Heimreise besteht aus Fenster öffnen, Fenster schliessen, von Innenluft auf Aussenluft und umgekehrt wechseln und die Klimaanlage ein- und abzustellen. Doch nichts nützt auch nur im geringsten etwas. Wahrscheinlich werden wir deshalb zukünftig als Klimaleugner eingestuft.

Nicht ganz überraschend, findet auch diese Epoisses-Heimfahrt ein Ende, möglicherweise sogar schneller als erwartet; denn der Chauffeur hat zwischendurch klimabedingt das Gaspedal mit Bleifuss bedient. Zwei Erwachsene, drei Kinder und ein Hund flüchten zu Hause aus dem Auto, wohl im Bewusstsein, dass der Pawlow Reflex bei allen zukünftig blockiert sein dürfte, und ich begreife wohl zum ersten und letzten Mal in meinem Leben, dass Veganer ein einziges Mal recht behalten, wenn sie keinen Käse essen.

Zum Schluss werden aber auch wir alle noch beinahe zu Vegetarieren. Die drei Schachteln Epoisses landen bei uns auf der Terrasse, und bei der späteren Nachkontrolle denken wir, dass wir dem penetranten Geruch endlich auf die Spur kommen möchten und öffnen den Deckel der Holzschachteln. Und schon blicken uns Dutzende von aus dem Käse ragenden Madenköpfen entgegen, was zu einer notfallmässigen Entsorgung statt zum Ausliefern bei der Freundesfamilie führt. Sie warten noch heute auf den Direktimport.