Frühmorgens um 06h40 werde ich vom unvermeidlichen Wecker jäh aus dem Schlaf gerissen. Warum muss ausgerechnet ich heute eine halbe Stunde früher aufstehen als sonst? Der Grund ist ja eigentlich erfreulich; denn nach dem Schnellimbiss mit Ovomaltine geht es ab zu Al Forno für zwölf Gipfeli, die an der erstmals durchgeführten Teamsitzung im ZMS gebraucht werden. ZMS bedeutet nicht etwa Zweifel am Medizynischen Schaffen sondern Zentum für Medizin und Sport im Säntispark.
Unterwegs steigen mir vor lauter Lachen Tränen in die Augen, weil „Keller“ vom Radio FM1 einer Openair-Teilnehmerin mitteilt, dass ausgerechnet sie gefälschte Tickets habe, und sie so nicht ans Openair gehen könne. Warum denn ausgerechnet ich, wenn weit über zwanzig tausend verkaufte Tickets das Openair ausverkauft machen? Der gleiche Scherz-Keks leimte uns am letzten Dreikönigs-Tag genauso rein, in dem er eine Plastikvergiftung durch den verschluckten König vorgab. „Keine Angst, solange er nicht die Krone verschlucke“, war unser ultimativer Gesundheitstip. Warum bekamen damals ausgerechnet wir dieses Telefon?
Die Sitzung um 07h30 verläuft höchst erfreulich, und das nicht nur wegen der Teilnahme von Al Forno und Nespresso, sondern sie endet einmal mehr mit der Feststellung, auf allen Ebenen ein hervorragendes und eingespieltes Team zu haben. Sogar die Diskussion über den erhöhten Personal- und Raumbedarf und die Feststellung der Tatsache, dass die Reinigungsfrau vom neuen Unternehmen noch keine Zahlung erhielt, geht problemlos über die Bühne, letztere bekam nur den halben Stundenlohn, und diesen nicht einmal überwiesen, warum ausgerechnet sie? Oh je, da kommt noch der Orthopäde rein, der um 08h00 seine Arbeit beginnt, und wir alle gleichzeitig merken, dass wir ihn auch hätten einladen sollen. Vergessen, warum ausgerechnet ihn? Kaum ein Arzt ist jedoch traurig, wenn er eine Sitzung weniger hat und dennoch einen Kaffee mit Gipfel erhält. Dafür ist er noch bei der Verteilung der Biberherzen an alle medizinischen Praxisassistentinnen dabei, als Dank für die Superdienste zwei Tage vorher bei einer Podiumsdiskussion mit 250 Teilnehmern und anschliessender Praxisbesichtigung im Einstein. Warum denn eigentlich Geschenke immer nur an Weihnachten übergeben?
Meine Ankunft im Gesundheitszentrum in der Stadt erfolgt mit zehnminütiger Verspätung. Zu meinem grossen Glück ist der erste Patient hochzufrieden mit seinem Zustand nach frischer Stent-Einlage und Ballondilatation bei Verschluss eines Herzkranzgefässes, das sei für ihn das grösste Geschenk! Ob das die Krankenkasse bei der Bezahlung der Spitalrechnung der privaten Abteilung dann wohl auch denkt? Der zweite Patient ist dann schon ein ernsthafteres Problem, nämlich ein Fussballtrainer mit blutigem Urin, aber leider keinen Schmerzen. Leider, weil es bei Schmerzen eine Entzündung oder ein Steinleiden hätte sein können, so aber der Verdacht auf einen Blasentumor besteht. Tags darauf erfolgt dann der Ultraschall bei meiner Assistentin und die sofortige Überweisung zur Blasenspiegelung an den Urologen. Wir dürfen aber auch die Hoffnung haben, dass es sich um etwas Entzündliches handelt, immerhin ist ja das CRP (C-reaktives Protein, ein Entzündungszeichen) etwas erhöht! Warum ausgerechnet ich, denkt wohl der Patient.
Als nächstes erfolgt die Quickkontrolle bei einem blutverdünnten Patienten, der vor zwei Jahren um ein Haar auf einer Schiffsreise an einer akuten Magenblutung gestorben wäre. Wir diskutieren über den Eishockeystar Krutow, der vor einem Tag an einer inneren Blutung verstorben ist. Warum ausgerechnet ich, kann Krutow leider nicht mehr denken.
Das Telefon von einer Assistenzärztin des Kinderspitals beendet abrupt unser Philosophieren über Gesundheit, Sport, Medizin und den Sinn des Lebens. Sie wolle mir nur mitteilen, dass der vor einer Woche wegen Anämie und Blutbildveränderungen notfallmässig eingewiesene dreizehnjährige Fussballer eine akute Leukämie habe. „Oh nein!“ entfährt es mir, „warum ausgerechnet er?“ Und warum ausgerechnet sie, nämlich die gleiche Fussballmannschaft, die schon vor einem Jahr ein Team-Mitglied an einer akuten Leukämie verloren hat? Bei den nachfolgenden Patienten-Untersuchungen von Blutzucker, Blutdruck, Quick, Cholesterin und was auch immer, bin ich wohl nicht mehr allzu konzentriert, mein eigener Blutdruck liegt wohl jenseits aller Grenzen, obwohl ich vermutlich einen bleichen Eindruck mache, was mir auch klar von der nächsten Patientin mit der Frage mitgeteilt wird: „Herr Doktor, Sie sind so blass, wie geht es Ihnen?“ Der Gedanke an die Leukämie beschäftigt mich wohl noch einige Zeit.
Am Nachmittag im Säntispark folgt die erfreuliche Tatsache eines Ersttests der neuen Spiroergometrie-Anlage, gemeinsam durchgeführt von der erfahrensten MPA und der neuen, topmotivierten Sportwissenschaftlerin und Leistungsdiagnostikerin. Auf dem Fahrrad sitzt eine gesunde, junge Leichtathletin mit hervorragender Leistungsfähigkeit, deren Brustschmerzen erfreulicherweise als rein muskulär interpretiert werden dürfen, ohne Hinweise auf Herz- oder Lungenerkrankung. Endlich heute mal nicht der Worstcase.
Gleichzeitig sitzt jedoch ein Notfallpatient im Röntgen, der am Sporttag in der Schule beim Sechzigmeter-Sprint auf seine Schuhbändel gestanden ist, und sich beim Sturz den linken Unterarm gebrochen hat. Weinend mit schmerzverzerrtem Gesicht stöhnt er: „Warum ausgerechnet ich, der ich schon vor ein paar Monaten genau den gleichen Arm gebrochen habe?“ Nach der unvollständigen Röntgenabklärung (nur ein Bild geschossen, da es zu schmerzhaft ist) und Anfertigung einer Schiene erfolgt die notfallmässige Einweisung ins Kinderspital mit der Frage der Therapiemöglichkeiten.
Der nächste ist ein Rückenpatient, mit dem über die überflüssige Managed Care-Abstimmung („ich habe Sie ja schon seit Jahrzehnten als Hausarzt, und dies soll so bleiben“) und die bald abzustimmende Einheitskasse diskutiert wird. Wir hätten beinahe vergessen, seinen verspannten, aber durch die Diskussion wohl schon gelockerten, Rücken anzuschauen. Ein Fall für den Osteopathen oder Chiropraktor. Warum wohl er?
Was ist denn hier los? Warum weint die dreifache Mutter, die doch in den vergangenen Jahren alles so perfekt gemacht hat. Ihre älteste elfjährige Tochter sei seit Jahren ein Zappelphilipp, renne vom einen zum andern, könne kaum was fertig machen, und sei so unruhig, dass sie alle tyrannisiere. Die Mutter dreht durch und verzweifelt daran, auch an der Tatsache, die beiden jüngeren Knaben zu vernachlässigen, ja sogar die Partnerschaft sei in Gefahr. Ich versichere ihr, dass nicht sie, sondern die Tochter das Problem sei, und dass mit allergrösster Wahrscheinlichkeit ein behandelbares ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom) vorliege. Sie geht glücklich nach Hause, auch weil ich ihr versichere, noch mit dem Lehrer zu telefonieren.
Um 18 Uhr geht es ab ins Arabisch, dies ist der jeweils wöchentlich stattfindende Versuch, mit den restlichen Hirnzellen dem Alzheimer ein Schnippchen zu schlagen. Al Hamdull’ah, mein Wortschatz genügt ja sogar für ein paar stotternde Antworten an die fragende Mudarrisa, genannt Lehrerin. Immerhin habe ich nach zehn Jahren Unterricht etwa den Stand eines Dreijährigen erreicht, was aber keineswegs an der Mudarrisa liegt, sondern eher an meinem Zeitmanagement, das mich ständig anderes als prioritär anschauen lässt, statt die Hausaufgaben zu machen. Hoffentlich prüft nie jemand allzu genau die erwähnten Arabischkenntnisse in meinem Curriculum vitae.
Wieder zu Hause, folgt das schwere Telefon an die Eltern des Leukämie-Kinds. Erfreut nehme ich zur Kenntnis, dass die Eltern sehr positiv und dankbar für die schnelle Diagnose sind. Der Jüngling werde kämpfen und wieder genesen. Die lymphatische Leukämie hat in der Tat eine nicht allzu schlechte Prognose, doch wird es die Energie und Ausdauer eines Leistungsfussballers brauchen, der mit Recht denkt: „Warum ausgerechnet ich? „ Der Kampf geht etwas mehr als zwei Jahre später leider verloren, die traurige Mitteilung durch den Stadion-Lautsprecher, gefolgt von einem kurzen Aufstehen an einem Fussballspiel des FC St.Gallen lässt mich und dreizehntausend weitere Zuschauer daran denken. Ich bin traurig und kann mich der FCSG-Tore nicht richtig erfreuen. Schlagartig wird allen Spielern und Zuschauern, und mit grosser persönlicher Betroffenheit auch mir selber, einmal mehr bewusst, dass das wichtigste Gut die Gesundheit ist. Geniessen wir sie, solange wir sie haben!