Vom Sohn dem Sensemann und der französischen Justiz entrissen


Eigentlich war diese Geschichte überhaupt nicht vorgesehen, doch sind die Ereignisse einer Fahrrad-Tour im Spätherbst 2019 so dramatisch, dass es beinahe eine Sünde wäre, diese wahrhaft lebensgefährlichen Erlebnisse nicht aus dem Frischgedächtnis heraus aufzuschreiben und dem interessierten Leser weiterzugeben.

Wer kennt sie nicht, diese wunderschönen Herbsttage an der Côte d’Azur, an denen sich das Meer und der Himmel kitschig blau zeigen, und jede Bergspitze, ja beinahe jede Pinie und Zypresse auf den Hügeln einzeln dargestellt ist. Wir entscheiden uns, die Velotour ausnahmsweise nicht in das sonst an solchen Tagen übliche Esterel-Massiv, sondern in die entgegengesetzte Richtung nach Cagnes zu machen, mit dem Ziel, unseren Sohn und Schwiegertochter mit ihren Zwillingen im Einkaufszentrum Polygon zu treffen.

Die phantastische Fahrt von Mandelieu–La Napoule dem Meer entlang wird, je näher man Cannes kommt, desto spannender und gefährlicher. Französische Fahrradwege sind zwar stark im Kommen, enden jedoch plötzlich mit einem quer durchgestrichenen Fahrrad auf blauer Tafel und überlassen das Schicksal dem Velofahrer selber, der sich plötzlich zehn Zentimeter neben einem vorbeirasenden Automobil vorfindet und durch den Fahrtwind haarscharf am rechten Strassenrand vorbeigetrieben wird. Dank der E-Mobilität kann das Tempo der Fahrzeugkolonne problemlos eingehalten werden, so dass es für den Rest der Strecke eher die Fahrräder sind, die überholend die Spur wechseln. In Cannes selber geht dann aber gar nichts mehr, da erstens gerade eine grosse Segelregatta gestartet wird und zweitens ausgerechnet heute die berühmte Strandpromenade, La Croisette genannt, wegen des herbstlichen Abbaus der Strandpavillons so mit lauter Lastwagen zugepfercht ist, dass das Fahrtempo kaum demjenigen der Fussgänger entspricht. Dank diverser Balanceakte, Notbremsungen und Sprintqualitäten werden alle Hindernisse überwunden und das Polygon erreicht, wo es zwar Tausende von Parkplätzen in unzähligen Parkhäusern gibt, aber offenbar kaum jemand mit dem Fahrrad hinfährt. Wir finden dann doch noch einen kleinen Veloständer und zufälligerweise direkt daneben unsere Familie.

Nach dem gemütlichen gemeinsamen Mittagessen, das beinahe zur Henkersmahlzeit geworden wäre, gehen die einen noch in den Billigladen Primark, der es bei uns nur bis an die Schweizer Grenze, nicht aber ins Landesinnere geschafft hat, und die anderen, nämlich meine Frau und ich, entschliessen uns, den rund fünfunddreissig Kilometer langen Heimweg nicht mehr der Küste entlang, sondern durch die naheliegenden Hügel pedalenderweise anzutreten. Das GPS des Fahrradcomputers wird auf die schönste und nicht etwa die schnellste Route programmiert und schon radeln wir in Richtung Biot, einem wunderschönen Dorf oben auf dem Hügel, an dessen Fuss eine sehenswerte Glasbläserei liegt, die wir aber heute rechts liegen lassen. Zuoberst realisieren wir, dass das GPS uns eigentlich schon lange vor dem Bergpreis gerne von der Hauptstrasse getrennt hätte, doch gibt es im hübschen Dorfkern wenigstens genügend Bistrots mit Aussenplätzen, so dass zum Glück, und Cola sei Dank, der Exsikkose vorgebeugt werden kann.

Dann halt wieder den Hügel runter. Bei sowas hätten Sie vor der Elektrozeit mal meine Frau erleben sollen, doch mit genügend Batterie wird dies heutzutags problemlos bewältigt. Ja sogar, als wir beim nächsten Hügel wegen einer in Frankreich nicht so seltenen mit

«Route barrée» gekennzeichneten Tafel umkehren müssen. Auf einer kurvenreichen, mittlerweile als kleine Passstrasse zu interpretierender, Strecke realisiere ich meinen knappen Batteriestand bei noch circa zwanzig zu absolvierenden Kilometern. Nach der Devise «Weg vom Strom und reine Muskelkraft zur Energiegewinnung», dieser Slogan könnte von Greta Thunberg stammen, ausser es ist gerade Schulstreik-Freitag, erklimmen wir bei Sophia Antipolis den nächsten Hügel und realisieren kaum, dass die Strassen immer mehrspuriger und breiter werden, und die Motorfahrzeuge immer rasanter an uns vorbeibrausen.

Ob es mein anstrengungsbedingter Sauerstoffmangel, die grosse Wärme oder einfach der Stress und die Konzentration durch den immer gefährlicher werdenden Verkehr sind, bleibt für alle Zeiten unklar. Doch immer klarer wird, dass der eingezeichnete Fahrradweg abrupt aufhört und sich zu einer Schnellstrasse entwickelt, auf der die Autos uns mit rund hundert Stundenkilometern überholen. Der rechte Fahrrand ist ja meistens sicher, jedoch keineswegs mehr, als von rechts eine doppelspurige Strasse einmündet, auf der die Fahrzeuge nicht minder schnell daherkommen. In dieser verzweifelten Situation gibt es für uns kein Zurück mehr, sondern nur noch beschleunigend geradeaus. Da die Differenz zwischen unseren fünfundzwanzig zu den hundert Kilometer schnellen Autos noch erheblich ist, müssen wir das Glück in Anspruch nehmen, um bei einer kleinen Lücke in den beiden rechten Spuren schadlos das Ziel des rechten Strassenrandes mit schmalem Pannenstreifen zu erreichen. Wir werden ja weiter vorne rechts wieder abfahren können.

Doch ist der Höhepunkt dieser lebensgefährlichen Geschichte noch keineswegs erreicht, in dem wir rechts eine fünf Meter lange Abfahrt sehen, die durch ein geschlossenes Eisentor führt, und der Pannenstreifen hier abrupt endet. Da dieses Tor verschlossen ist und weiter vorne uns eine hoch über der Strasse drohende blaue Tafel die Autobahneinfahrt in Richtung Cannes anzeigt, kehren wir schiebenderweise wieder um, in der Hoffnung, auf dem Pannenstreifen retour gehen zu können, um so quasi das rettende Ufer zu erreichen. Doch leider endet auch dieses Unterfangen in einer, in der Leitplanke endenden Spur, so dass wir zum zweiten Mal umdrehen und erneut zu Fuss entlang dieser Autobahn……  Nein es ist eben keine offizielle Autobahn, da es keine Pannenstreifen hat. Wir landen also erneut in der kleinen Rettungsinsel mit dem verschlossenen Tor, angrenzend an die Zahlstelle der Autobahn A 8 von Antibes. Oh Wunder, das Tor lässt sich etwas aufstossen, so dass wir uns hineinzwängen können. Nach dreimaligem Läuten und langem Warten meldet sich endlich eine Stimme, die uns wohl für Ausserirdische hält, als wir erklären, wir seien mit dem Fahrrad hier. «C’est pas possible, mais je viens» ist die lapidare Antwort an die Ausserirdischen, die ja wahrscheinlich schon lange vorher von der Kamera erfasst wurden.

Die Hoffnung stirbt zuletzt, doch was uns diese unhöfliche und aggressive Person rät, ist absolut unfassbar und lebensgefährlich; denn wir sollten unverzüglich mit den Fahrrädern zurück auf die sich weiter vorne teilende Autobahn zurückkehren, in der Mitte einspuren und dann nach links abiegen, und dies bei mit hundert Kilometern dreispurig daherrasenden Fahrzeugen ohne nennenswerte Lücken dazwischen! «Wie wir denn überhaupt hier hereingekommen seien» ist die Fortsetzung der «netten» Unterhaltung. «Durch das leicht zu öffnende Tor» lässt das Blut offenbar zum Sieden bringen. «Er rufe jetzt sofort die Polizei und lasse uns wegen Einbrechens in geschütztes Gebiet verhaften». Wir erklären ihm nochmals die Gutartigkeit unseres Besuchs, und dass wir jetzt unseren Sohn anrufen werden, der uns aus dieser gefährlichen Lage befreien soll.

Für die Tatsache, dass der Teufel uns dann doch noch nicht will, und der Aggressivmann uns letztendlich nicht als Terroristen oder Ausserirdische einstuft, spricht, dass die Gendarmerie nicht aufgeboten wird, oder langsamer als unser Sohn bei der Anfahrt ist, und wir erfolgreich die fünf Meter  zu unseren Fahrrädern flüchten können.  Während wir also auf unsere Rettung warten und die e-Bikes mit Ketten abschliessen, um sie dann später mit dem Veloanhänger abzuholen, radelt ein weiterer Velofahrer, sogar einer in einer gelben Veste, an uns vorbei. Gespannt beobachten wir, ob er wohl einen anderen Weg kennt, bis er nach fünf Minuten, die uns bekannt vorkommen, wieder zu Fuss bei uns ankommt mit der Feststellung, dass wohl ein Velofahrverbot fehle. Er geht dann den lebensgefährlichen Weg, das Fahrrad schiebend, retour bis zur Leitplanke ohne Pannenstreifen. Sicherheitshalber schiessen wir noch ein Bild von ihm, falls wir später an Halluzinationen erinnert werden sollten. Er scheint es überlebt zu haben, mindestens bis zum Eintreffen unseres Sohns; denn solange ist kein Krankenwagen zu hören.

 Bei der Rückfahrt auf der A8 mit dem schönen Namen «La Provençale» in Richtung Cannes leuchtet bei unserem Rettungs-Citroen ein rotes Batteriezeichen am Armatourenbrett auf, das angeblich beim nächsten Halt von alleine wieder lösche. Ob dies wohl wirklich der Fall sein wird?

Beim Abholen unserer Fahrräder nach rund einer Stunde fahren wir übrigens den exakt gleichen Weg, um zu schauen, ob wir ein allfälliges Fahrrad-Verbotssignal übersehen haben, doch es existiert keines. Am Abend lese ich dann, dass exakt diese Zahlstelle vor einigen Monaten riesige Probleme mit den Gilets Jaunes, also den Gelbwesten, hatte. Der Angestellte, der uns in den sicheren Verkehrstod geschickt hätte, litt wahrscheinlich unter einer Phobie gegen unsere gelben Veloshirts. Es leben die Gilets Jaunes!