Es ist also tatsächlich das Archäologen-Ehepaar, das unser Haus in Grasse kauft. Die acht Tage der «Offre d’achat» sind abgelaufen, und der «Compromis» wurde auch schon vor zwei Monaten unterschrieben. Bei diesem Vorvertrag wird eine hohe Konventionalstrafe festgesetzt, wenn Käufer oder Verkäufer vom Vertrag zurücktreten möchten. Da allerdings die vertraglich festgesetzte Dreimonatsfrist bis zur definitiven notariellen Unterzeichnung wegen fehlender Kreditbestätigung der Bank um einen Monat verlängert werden muss, läuten bei uns alle Alarmglocken, dass aus unserem Jackpot eine Fata Morgana werden könnte.
Da es sich bei einer Fata Morgana um eine Luftspiegelung durch Ablenkung des Lichts durch unterschiedlich warme Luftschichten handelt, und keineswegs um eine optische Täuschung, glauben wir noch an den bestehenden Vertrag, zumal das Archäologen-Ehepaar in der Internet-Recherche einen seriösen Eindruck mit staatlich subventionierten Jobs macht, doch könnte es sich auch um ein «Déjà-vu-Erlebnis» handeln, wenn wir an den Boulanger in der Huissier-Geschichte denken. Der Verkauf wird endgültig realistisch, als der Immobilienhändler anruft und um einen schnellstmöglichen Termin beim Notar bittet. Wir buchen sofort den Hinflug und auf vier Tage später den Rückflug, easyjet sei Dank. Mit rund zweihundertfünfzig Franken für zwei Personen inklusive Automiete ist das Ganze zwar viel zu billig, doch wir nehmen es ohne schlechtes Gewissen, da wir der Sache des Hausverkaufs noch ganz und gar nicht trauen, zumal die Käufer auf unser Gratisangebot von zwei elektrischen Kochherden, einem Kühlschrank, mehreren Schränken und grossen Vorhängen nicht reagiert haben, doch haben sie bis Sonntag Abend Zeit, da wir erst montags, das heisst zwei Tage vor dem Notar-Termin, den Abtransport organisieren werden.
Was gibt es Schöneres als an einem Samstag Abend nach Grasse zu fahren, den terminalen Zustand des Hauses zu kontrollieren, und dann zu realisieren, dass noch viel Arbeit auf uns wartet. Obwohl die Ecke im Treppenhaus zum ohnehin schon immer mit Feuchtigkeit behafteten Kamin einigermassen trocken aussieht, hätte Alexander Fleming, der Erfinder des Penicillins, eine Riesenfreude. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Medizinern ist, dass Alexander Fleming für die Entdeckung seines Schimmelpiles 1945 den Nobelpreis bekam, und ich für das Auffinden des Treppenhaus-Pilzes höchstens einen desinfizierenden Farbkübel. So fahren wir dann anderntags, das Auto vollgepackt mit Farben, Verputz, Pinseln, Staubsauger und Besen, nach Grasse statt nach Stockholm, um den Nobelpreis abzuholen.
Dass dies nach einer unruhigen Nacht geschieht, lässt uns noch keine schlechten Gedanken hegen, die leichten, für mich jedoch sehr ungewohnten, linksseitigen Bauchschmerzen dürften mit der Reise und den geplanten Verkaufsabsichten im Zusammenhang stehen. Verdächtig ist immerhin, dass wegen Übelkeit auch kein Frühstück möglich ist. In Grasse angekommen, verbessert sich die Situation unter der Anspannung und Ablenkung von kleineren Malerarbeiten mit dem Ziel, dass es am Verkaufstag nicht mehr nach Farbe riecht. Nach getaner Arbeit hält sogar eine Büchse Cola in meinem von Nausea geplagten Körper, doch so langsam steigt auch die Schmerzskala wieder. Kaum in der Wohnung in Mandelieu angekommen, entledige ich mich peroral von den dreihundertdreissig Millilitern Cola und stelle zu meiner grossen Freude fest, dass sich der Urin bräunlich eintrübt. Die Diagnose einer Nieren- respektive Harnleiterkolik ist dadurch gesichert, so sah der Urin letztmals vor zehn Jahren beim letzten Steinleiden aus. Ausgerechnet dieses eine Mal habe ich wegen der Reise per Flugzeug keinerlei diagnostisches und therapeutisches Material dabei, doch wären Tabletten ohnehin der umgekehrten Peristaltik zum Opfer gefallen.
Vor zehn Jahren war es meine medizinische Praxisassistentin, die mich eigentlich gegen meinen Willen nach Hause schickte und mich meine Töchter anschliessend ins Spital fuhren, diesmal ist es meine Frau, die keine Gnade kennt und mich überzeugt, aber eigentlich nur meine Meinung bestätigt, dass ich notfallmässig ins Spital gehen soll. Ich erinnere mich meines Tenniskollegen, der im Spital Cannes kardial so hervorragend behandelt wurde, dass er nach Katheter-Dilatation der Herzkranzgefässe heute wieder problemlos Tennis spielt. So fahre ich mich selber, was ich einem Patienten nie erlaubt hätte, auf die besagte Notfallstation und erschrecke nicht schlecht ob der etwa zwanzig wartenden Patienten. Die eigentliche Bedeutung des Wortes Patient, nämlich geduldig, wird einem sofort klar, doch gilt dies in diesem Augenblick für alle anderen, so dass ich mich direkt an einen zwar nicht besetzten, aber immerhin geöffneten, Schalter begebe, die drei Ausweise ID, Krankenkassenkärtchen und ein uralter FMH-Arzt-Ausweis in der Hand. Nach fünf Minuten ziemlich schmerzhafter Wartezeit kommt ein junger Mann an den Schalter und fragt mich nach meinen Wünschen. Bei Schmerzskala zehn und wahrscheinlich kreideweissem Gesicht sieht er mir offenbar die Richtigkeit meiner vorgebrachten Diagnose an und öffnet sofort eine Seitentüre,legt mich auf eine fahrbare Liege und fährt mich in den «Salle d’exit d’examen». Ausgerechnet Exit, wenn ich doch noch ein Haus verkaufen sollte! Und was sehe ich an der Decke, einen grossen Feuchtigkeitsfleck, wie ich ihn von Grasse her gewohnt bin, also bin ich am Träumen, dabei habe ich noch gar keine Infusion…. Ein kleiner Stich, ein Verband und schon fliesst das heilende Medikament via Infusion in meinen Körper!
Ich solle doch bitte noch Wasser lösen, dies sei hier gleich um die Ecke. Zum ersten Mal an diesem Tag kann ich einigermassen schmerzfrei gehen und sehe durch die Glastheke hindurch wieder die zwanzig friedlich und geduldig Wartenden, die wahrscheinlich alle denken, dass ein Moribunder richtig reanimiert wurde. Vom Urin wird mir vom immer noch gleichen Pfleger meine Diagnose bestätigt, auch seien keinerlei Entzündungszeichen vorhanden. Jetzt sehe ich zum ersten Mal auch eine junge Ärztin, die sich nach meinem Befinden erkundigt und mir mitteilt, dass ich mich gedulden müsse, bis der Scanner frei sei. Erstaunlich, dass bisher, die Medikamenten-Infusion inbegriffen, alles durch den Pfleger erledigt wurde. Ich werde über Schwellen so in den Korridor geschoben, dass sich jeder Nierenstein von selber löst, und sehe dann bei wunderbarer Übersicht in all die vollen, menschengefüllten Boxen hinein, die viel zu kurzen Vorhänge decken höchstens seitlich zum Nachbar etwas ab, doch mein Blick von vorne sieht halbnackte, verwirrte Frauen mit einem kühlenden Tuch auf Gesicht oder Bauch, einen Beinamputierten, allerdings nicht frisch, einen an einem Monitor hängenden Herzpatienten, einen stark hinkenden Polizisten in Uniform, der sich gerade hinlegt. Diese Anamnesen und Krankengeschichten wären äusserst interessant, doch werden meine Gedanken von einer grossen über der Eingangstüre hängenden Tafel «Privé» abgelenkt. Dieses höchstprivate und gendergerechte Arztgeheimnis mit nahezu offenen Boxen lässt mich laut lachen und an die schönen Einzelzimmer auf unserer Notfallstation im Stephanshorn denken.
Oha, beim Monitorpatienten sehe ich nur noch einen Strich, was mich trotz schwerer Steine aufspringen lässt, doch realisiere ich noch rechtzeitig, dass er sich bewegt und atmet. Statt Herzstillstand diagnostiziere ich einen leeren Akku des Monitors, der aber offenbar in keinem Überwachungsraum beobachtet wird, da erst nach zehn Minuten zufälligerweise mein Pfleger vorbeischaut und nach der gleichen Schrecksekunde, die mir widerfahren ist, den Monitor wechselt. Nach insgesamt weniger als einer halben Stunde, wird mein Bauch gescannt, wobei mir auch heute noch nicht klar ist, ob es eine Computertomographie oder ein MRI war. Das wahrscheinliche CT sehe ich ja dann auf der Rechnung oder auf der versprochenen, nach Hause gesandten CD, deren Ankunft jedoch auch nach zwei Monaten noch pendent ist und demzufolge nie ankommen wird. Der Radiologie-Assistent kommt dann mit der guten Nachricht, dass «le calcul déjà à moitié descendu» sei, die Steine also ins Rollen kommen, was mich erstmals wieder an die Realisierung des bevorstehenden Hausverkaufs erinnert. Besagte Ärztin kommt dann allerdings mit der nicht hauswürdigen Diagnose eines sich noch im Nierenbecken befindlichen, zusätzlichen Steins. Steinreich werde ich aufs Zimmer verlegt, mit der Bitte, mich morgen früh für eine wegbereitende, aber Hausverkauf-hemmende, Ureter-Schienung bereit zu halten, ich dürfe deshalb nur noch bis Mitternacht trinken. Ich erlaube mir deshalb, die Infusion dreimal schneller einlaufen zu lassen und wache am Morgen absolut beschwerdefrei auf. Auf die Bitte der Krankenschwester, mich mit Betadine zu desinfizieren, reagiere ich mit dem Wunsch, der jungen Urologin (denn sie hätte mich operiert) auszurichten, dass ich das Spital schnellstmöglich verlassen möchte, um ein Haus zu verkaufen. Nach einer Stunde Zusammentragens der Austrittsakten und einer Kontrolle der mittlerweile wieder erholten Nierenfunktion wurde mir das auch gestattet, ich hätte mich aber ohnehin unter die vielen flüchtenden Sanspapiers an der Côte d’Azur gesellt.