Ravioli – oder das kleinere Übel in der Camargue


Viele Jahre ist es schon her, dass wir kurz nach der Matura wild in der Camargue inmitten von Flamingos und Pferden campierten. Ich erinnere mich nicht nur an das Meeresspiegel-bedingte frühmorgendliche Aufwachen auf einer Insel statt wie beim Einschlafen am Ufer, sondern auch an sandige, zum Teil betonharte, zum Teil aber auch mit tiefen Wasserpfützen bestückte, Strandstrassen, auf denen man keinem anderen Fahrzeug begegnete.

Auch bleibt der Moment in dramatischer Erinnerung, als das Spritzwasser dieser Pfützen und der aufkommende Regen den Zündverteiler so befeuchtete, dass zwei Stunden später auf der grössten Strasse und an der wohl grössten Kreuzung von Marseille, bergaufwärtsfahrend, das Auto einen Herzstillstand erlitt. An eine Reanimation war leider überhaupt nicht zu denken, da es weder möglich war auszusteigen noch das Fahrzeug rückwärts den Hang herunterrrollen zu lassen, so dicht war der Verkehr in der abendlichen Rush-Hour. Dies war jedoch weder langweilig noch eintönig; denn das vieltönige, über einige Oktaven reichende, Hupkonzert um uns herum war ohrenbetörend spannend, wenn auch Tinnitus gefährdend.

Dieser Stau um uns herum dauerte immerhin länger, als die von uns im Auto aufgekochte und mit Genuss verzehrte Büchse Ravioli. Zu unserem Glück hatten wir kein Bier dabei, sonst hätte uns nach eineinhalb Stunden die hilfsbereite Gendarmerie eher zur Alkoholprobe abgeführt, als dass sie uns aus unserer ungewohnten Lage befreit hätte. Sie halfen uns nämlich, das Fahrzeug rückwärts an den Strassenrand hinunterrollen zu lassen, um dann anschliessend vom Abschleppdienst in eine diagnostisch und therapeutisch wertvolle Reparaturwerkstätte wieder hinaufgezogen zu werden.

Die Erinnerung an dieses Drama, das für uns keineswegs, aber für die Tausenden übriger Verkehrsteilnehmer, ein Drama war, kommt in dem Moment wieder hoch, als wir Jahrzehnte später auf der gleichen sandigen Strandstrasse von Les Saintes-Maries-de-la-Mer aus ostwärts in Richtung Marseille unterwegs sind. Die typischen Badestrände liegen schon lange hinter uns, als tatsächlich in der Wildnis Menschen auftauchen, alle im Sand liegend, sitzend, laufend, die Sonne oder einen Guru anbetend. Konzentriert am Steuer entfährt mir die erstaunte Bemerkung, dass hier etwas nicht stimme. Frauen sind hier realistischer, wahrscheinlich sogar multitask-fähiger, so werde ich vom Beifahrersitz aus gebeten, doch bitte genauer hinzuschauen. Der konzentrierte Fahrer sieht jedoch immer noch nichts Besonderes, als die ganze Familie inklusive der drei Kinder im VW-Bus in schallendes Gelächter ausbricht, die hätten ja alle nichts an. Zum Glück geht alles geradeaus, wenn ich vor lauter Erstaunen das Steuer loslasse und fixierende Stielaugen bekomme. Der nackte Gedanke an unsere Kinder im Auto und die noch viel dramatischere Überlegung, dass wir angehalten werden, um uns ebenfalls zu entkleiden und im Adamskostüm an dieser FKK-Orgie teilzunehmen, lässt mich zuerst in der grössten südfranzösischen Hitze erschaudern, um dann anschliessend aber dem alten  VW-Bus zu demonstrieren, was ein richtiger Bleifuss auf dem Gaspedal wert ist. Das Fluchen über den hinter uns liegenden Sandsturm hören wir zum Glück nicht mehr, ich hätte ihnen sonst ein kostenloses Körper-Peeling respektive Sandstrahlen angeboten.

Die Weiterfahrt bringt uns gegen Abend an eine wunderschöne Meeresbucht, in der schon zwei andere Camper am Ufer parkiert haben. Beim Baden im sehr seichten Meer fällt uns noch nichts Besonderes auf, doch beim Betrachten der nachbarlichen Töpfe auf dem Feuer zur Linken werden wir akut zu Vegetariern, da darin Dutzende von kleinen Krebsen gegart werden. Und jetzt realisieren wir auch, dass die Nachbarn der rechten Seite mit Netzen im Wasser stehen, um ebensolche Krebse für das Abendessen zu fangen. Und gerade hier sind wir doch noch durchgewatet. Die Krebse sind überlebenstechnisch offenbar schlau genug, sich nicht wie Piranhas auf unsere Fussohlen zu stürzen, sondern sie vergraben sich bei Erschütterungen schnellstens  im sandigen Meeresgrund.

Ob wir denn das Souper schon eingenommen hätten, werden wir von den kochenden Nachbarn gefragt, wir sollten doch so ein Krebschen degustieren. Mit Souper ist das französische Nachtessen gemeint, doch die Erinnerung an eine Fischsuppe, Bouillabaisse genannt, ruft uns zwar die Nähe von Marseille in Erinnerung, hält aber unsere nachbarlichen Gourmet-Ambitionen in Grenzen. Da freuen wir uns lieber auf unser gemütliches und romantisches Openair-Picknick beim Sonnenuntergang. Statt Krebsen gibt’s Ravioli aus der Büchse, wir haben ja schliesslich einen Gaskocher dabei! Es ist keineswegs verwunderlich, dass die vom Vater gekochten Büchsenraviolis auch zu Hause zur Lieblingsspezialität der Kinder werden; denn bei Mutter’s Kochkünsten hat eine solch triviale Mahlzeit keinen Platz auf der Speisekarte. Herrlich die untergehende Sonne, die sich im blau-roten Meer spiegelt, und die auf dem Gaskocher bald prutzelnden Raviolis. Der gewiegte Leser merkt sofort, dass da keine Camping-Profis unterwegs sind. Erstens gibt es immer Raviolis und zweitens sind das nur Amateure, die bei Sonnenuntergang auf einem Gaskocher das Abendessen zubereiten.

Die hysterischen Schreie meiner Familie sind für uns alle einmalig historisch; denn die Tausenden von stechenden Moskitos fallen völlig unvegetarisch über alles menschliche Fleisch her, das sich während des Sonnenuntergangs ungeschützt am Strand befindet. Heroisch rette ich meine Familie ins Zelt und riegle es mit einem Reissverschluss hieb- und vor allem stichfest ab. Beim Gaskocher habe ich, der ich in langen Bluejeans und Langarmjacke, mich für die Familie opfernd, daneben sitze, sicherlich keinerlei Probleme?! Anderntags werde ich von der ganzen Familie ausgelacht, da ich, im Anschluss an die notfallmässige Flucht nach Grasse, mit hunderten wenn nicht sogar tausenden von Moskitostichen übersät, in der mit eiskaltem Wasser gefüllten Badewanne sitze. Die Kinder sind anschliessend am Zählen, und bei ungefähr zweihundert pro Gesässbacke hören ihre mathematischen Kenntnisse auf; denn es war ja nicht nur das Gesäss übersät. Später wird mir berichtet, dass eine blaue Gasflamme Moskitos nicht etwa vertreibe sondern vielmehr anlocke, zumal es sowohl tierisches als auch menschliches Blut zum Erobern gibt. Da wäre das knapp verpasste FKK-Bad noch das deutlich kleinere Übel!