In Polen die Kohlen aus dem Feuer holen


Wie lacht doch der strahlend blaue Himmel bei der Fahrt von St.Gallen über die Hügel von Schwellbrunn, die Wasserfluh und den Ricken. Das himmlische Lachen widerspiegelt nur zum Teil die inneren Gefühle mit leichter Nervosität vor meinem ersten Zusammenzug mit der Fussball-Nationalmannschaft. Dank alter Bekanntschaften aus dem Nachwuchsteam, mit dem wir immerhin den Final der U21-Europameisterschaft erreicht haben, folgt ein grossartiges Wiedersehen mit den Mitgliedern des Staffs und den Spielern in Feusisberg. Schnell holt einem die medizinische Realität zurück aus den Träumereien. Die muskulären Probleme beschäftigten uns schon im voraus, so dass der eine Spieler wegen seines Muskelfaserrisses schon gar nicht eingerückt war, und der zweite wohl Feusisberg mit Lourdes verwechselte. Die unmittelbare Nähe vom Wallfahrtsort  Einsiedeln oder von Egg, dem Geburtsort von Paracelsus, lassen vielleicht dennoch die Hoffnung auf eine wundersame Heilung zu.

Sämtliche Illusionen auf eine ruhige Zeit schwinden spätestens bei der Eintrittsuntersuchung, wenn von Wadenzwicken, Bänderrissen, Bronchitiden, Hautinfekten und anderem medizynischem Ungemach die Rede ist. Das infizierte Atherom wird dann erst nach dem Dessert erwähnt, sogleich inzidiert und exprimiert. Schon wieder hoffe ich auf mystischen Support. Das schmerzhafte Band entpuppt sich im MRI als klarer Riss, so dass die erste Heimreise schon am ersten Tag organisiert werden muss. Wieviel einfacher ist so ein  Eintrittsuntersuch doch heute, da dreht sich alles nur noch um Corona, je positiver, desto negativer für Spieler und Team.

Am Tag zwei wird wegen schmerzhafter Adduktoren die Reise zum Ultraschall organisiert. Abfahrfertig im Privatauto, kommt ein Telefon des Physiotherapeuten vom Trainingsende, dass der Wadenzwicker noch mehr Einzug hält, und wohl ebenfalls sonographiert werden sollte. So lohnt sich die Fahrt nach Zürich wenigstens, und zufälligerweise ist der weltbekannte, und eigentlich schon teilpensionierte, Ultraschaller gerade in Zürich, was im weiteren Verlauf dieser Verletzung und dieses Zusammenzugs noch eine wichtige Rolle spielen wird. Die Adduktoren beim einen sind super, doch zeigt die schmerzhafte Wade des anderen einen Muskelfaserriss, der schon einige Tage alt ist. Diese Tatsache bringt aber den Club des Spielers ziemlich in Rage, da „sie doch nichts verpasst hätten, und diese Verletzung sicherlich bei uns entstanden sei“. Ich bin froh, den englischen Fluch des Kollegen am Telefon jenseits des Kanals nicht im Detail zu verstehen, und dass die aktuelle Diagnose von einem absoluten Sonographie-Spezialisten gestellt wurde; denn anschliessend schreien ohnehin alle nach einem MRI, auf das im vorliegenden Fall mit bestem Gewissen verzichtet werden kann. Die Ausheilung dieses Verletzungsrezidivs wird übrigens den Spieler und Club noch mehrere Wochen beschäftigen, beinahe wären sogar noch Juristen involviert worden. Tatsache ist, dass schon der zweite Heimflug gebucht werden muss. Dass dies der Spieler schon selbst in die Hand nimmt, kaum sind wir im Stossverkehr von Zürich, löst bei mir nicht eitel Freude aus, da ich mich auf den Verkehr konzentrieren muss und kaum Zeit habe für das informierende Telefon mit dem Trainer und unserem Team-Manager. Nach fünfzehnminütigem Verkehrsstress auf der etwas ruhigeren Autobahn kann dies dann nachgeholt werden.

Dann haben wir jetzt Ruhe ab dem dritten Tag, träume ich beim Einschlafen, als ich um Mitternacht jäh durch ein Klopfen an der Zimmertüre in die Realität versetzt werde. Leider klopft es nicht nur an der Türe sondern viel stärker noch im Zehennagel des Captains. Die verabreichten Schmerzmittel und der desinfizierende Verband werden es wohl richten. Doch leider weit gefehlt, am andern Tag nehmen Klopfen und Infektion so rasant zu, dass der Grosszehennagel mit einer Kanüle auf schmerzhafte Art perforiert werden muss, so dass immerhin das Desinfektionsmittel an den Ort des Geschehens vordringen kann. Antibiotika von innen, Desinfektion von aussen und ein Tag Trainingspause, wenn das nur gut geht, oh Gott…

So langsam steigt die Spannung bei der Übersiedlung am vierten Tag in den Säntispark in Richtung St.Gallen. Der von mir geleitete Konvoi mit den Privatautos (Trainer und Spieler fahren im Car) wird aus dem Nebel am Zürichsee in Alpsteins Sonne geführt. Und schon folgt wieder eine Buchung der vorzeitigen Heimreise. Die fehlende Belastbarkeit bei zunehmender Intensität und schnellen Trainingseinheiten lässt eine gravierende Muskelverletzung wegen fehlender Trainingseinheiten als wahrscheinlich anschauen, und schon wieder wird das Auge des Ultraschallers benötigt. Wie heisst es doch so schön im Fussball: Antizipation ist alles! Das Abschlusstraining in der St.Galler AFG-Arena ist dann verletzungsfrei, und alle sind zufrieden. Ja der  UEFA-Delegierte aus Frankreich ist sogar hochzufrieden mit der medizinischen Infrastruktur im Stadion, was vielleicht auch etwas auf meine reich bestückten Koffer und Taschen zurückzuführen ist. Der Hauptgrund dürfte aber die Konversation auf Französisch sein. Da soll doch noch jemand gegen das Frühfranzösisch wettern, auch wenn ich mir meine Kenntnisse erst im Gymnasium erworben habe.

Am Matchtag des wichtigen Europameisterschafts-Qualifikationsspiels stehen dann elf gesunde und topmotivierte Spieler auf dem Feld, inklusive geheiltem Atherom und kaum mehr schmerzhafter Zehe. Der Doc erleidet jedoch zweimal beinahe einen Herzstillstand, das erste Mal bei einem Foul eines schon verwarnten Spielers, das zweite Mal bei einem, durch einen Ballverlust verursachten, Lobball von der Mittellinie aus, der aber knapp über das Schweizer Tor segelt. Litauen wäre dadurch fussballerisch beinahe zu Slowenien aufgestiegen, doch kommt es anders durch zwei erkämpfte und zwei wunderschön herausgespielte Schweizer Tore, Shaqiris Hacke ist dann noch der berühmte Punkt auf dem i. Mit diesem 4-0 im Gepäck lässt es sich dann leichter regenerieren, um tags darauf nach Polen zu fliegen.

Verbände und Nähte zu applizieren, ist der Doc eigentlich gewohnt, doch bei Reiseantritt zwölf Krawattenknöpfe für verzweifelte und bittende Spieler zu machen, sind eine ganz andere als medizinische Herausforderung. Wroclaw ist zwar kaum auszusprechen, aber eine sehr sehenswerte Stadt mit wunderschönen Plätzen, die für Weihnachtsmärkte wie geschaffen sind. Doch haben wir auch Weihnachten? Die Polen die kürzlich den Weltmeister aus Deutschland geschlagen haben, sind wohl kaum in Geschenkslaune. So ist denn das bisherige Abschlusstraining konzentriert und glücklicherweise verletzungsfrei, als zum Schluss die Spieler noch frei aufs Tor schiessen können. Der Doc ist, glücklich über fehlende Verluste, schon in der Kabine, als einer hinkend und seinen Oberschenkel haltend daherkommt. Bei diesem Muskelfaserriss handelt es sich tatsächlich um die vierte vorzeitig zu buchende Heimreise.

Was dann am nächsten Tag im sogenannten Freundschaftsspiel mit spätem Schweizer Ausgleich abgeht, ist Sonderklasse, so dass am Schluss ein 2-2 beidseits als Sieg gefeiert und allseits glücklich akzeptiert wird. Die Kohlen werden so buchstäblich in letzter Minute noch von den Schweizern aus dem Feuer geholt, und das im 750. Spiel der Nationalmannschaft.