Hundert Meter an der Schmerzgrenze im Winter


Was wird doch da geschraubt und geschliffen, in erster Linie an den Kufen. Der gewiegte Leser merkt sofort, dass hier nicht verzweifelte Do it your self – Bemühungen in Südfrankreich stattfinden, schliesslich ist ja sogar dort die Durchlässigkeit des Dachs mittlerweile auf ein Minimum gesunken, nein das Handwerk wird vor dem Start eines Bob-Wettkampfs ausgeübt, Der Meister, genannt Pilot, ist mit seinen Passagieren höchtpersönlich dafür verantwortlich. Insassen wäre wahrscheinlich der bessere Ausdruck als Passagiere; denn ein Passagier hat gewöhnlich in jedem Fahrzeug zu Lande, auf dem Wasser oder gar in der Luft, etwas Bewegungsfreiheit, in einem Bob gibt es jedoch keinen überflüssigen Quadratzentimeter, so dass das ganze Team in eine Stahlkombination hineingepfercht wird. Der Unterschied zu einem Gefängnis ist höchstens, dass bei letzterem die Reihenfolge des Eingesperrtwerdens und Austritts frei ist. Wehe, wenn jedoch beim Bob dies durcheinander kommt. Der Platzmangel wird in dieser Geschichte noch einen besonderen Stellenwert erhalten.

Doch zurück zum Schliff, der schon mehrfach das Stimmunngsbarometer der Bobfahrer und ihrer Gesetzgeber trotz warmer Temperaturen weit unter den Gefrierpunkt sinken liess. Wenn nämlich keine Schleifspuren vorhanden sind, erhärtet sich nicht nur ein Verdacht, sondern womöglich das ganze Material der Kufen, was dann zu erhöhter Resistenz gegen bremsende Kratzer führt und somit die entscheidenden Hundertstelsekunden für eine Medaille einbringt.

Gemäss Reglement braucht es also vor dem Start ein vorgegebenes Kufenreinigungsmittel und anschliessendes Schleifpapier mit feiner Körnung. Das Schleifpapier heisst wohl aus akustischen Gründen auch Sand- oder Schmirgelpapier. Wir kennen alle das fröstelnde Gefühl, wenn rauher Sand auf Stein zerrieben oder Holz mit grobkörnigem Papier geschmirgelt wird, so dass einem alle Haare, so überhaupt noch vorhanden, zu Berge stehen.

Während bei uns geschmirgelt wird, was das Zeug respektive das Papier hergibt, schauen die Deutschen lieber nach Berlin, wo sie vom Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten (FES) beraten und geschliffen werden. Dass FES auch heissen könnte „Fahr Etwas Schneller“, sehen wir schon bald an den Zwischen- und Endzeiten der Deutschen, die trotz oder gerade wegen fehlender Olympia-Medaillen an der Weltmeisterschaft in Winterberg so ziemlich alles abräumen, was möglich ist, da haben sogar die lettischen Startraketen auch nicht den Hauch einer Chance.

Obwohl ich wie die EMPA aus St. Gallen komme und über erhebliche südfranzösische Handwerkererfahrung verfüge, bin ich keinesfalls als Materialprüfer hier. Ich bin als Arzt für meinen Kollegen an dieser Weltmeisterschaft eingesprungen und dachte, dass ich hier mit meiner Frau zusammen «eine ruhige Kugel schieben» könne. So schauen wir uns das Viererbob-Training unterwegs an der Strecke an, im Starthaus hört man ohnehin nur „der Frans, der kann’s“, gemeint war Francesco Friedrich. Wir können’s wohl auch! Wer schon mal an einer Bobbahn stand, der kennt das Geräusch vom herannahenden Bob, das in Sekundenschnelle zu einem ohrenbetäubenden Lärm wird und sofort wieder abflaut, die Augen sehen das mit hundertfünfzig Stundenkilometern heranbrausende Gefährt ohnehin kaum, von den Insassen sind nur die vier Helme in maximal gebückter Stellung zu sehen, mein Nacken verspannt sich nur schon vom Zusehen.

Da kommen jetzt also die Schweizer beim ersten Lauf des Vierbob-Trainings dahergebraust, nachdem sie zwei Wochen vorher, also bei ihrem letzten Lauf, gestürzt waren. Dieser Sturz wurde damals noch im Schweizer Fernsehen gezeigt, doch denkt man sich beim Betrachten nicht all zu viel, wenn die vier harten Jungs unversehrt aus dem gekippten Bob aussteigen. Der Lärm der sich rasant nähernden Schweizer wird also lauter, als es plötzlich in der Kurve neben uns kracht, als ob ein grosses Metall auf den Boden schlägt, und das anschliessende Geräusch ist ein so grobes und endloses Kratzen, wie Schmirgelpapiere es nie und nimmer schaffen würden, dafür nahe an der Schmerzgrenze. Ein kurzer Blick zu meiner Frau und ein gemeinsames lautes „Scheisse“ ist die sofortige Reaktion, und im erlebten Schockzustand bin ich äusserst erstaunt, dass meine Muskeln noch zu einem Hundertmeter – Sprint ins Ziel fähig sind, so dass ich noch vor den vier seitlich gekippten Jungs im Zielraum ankomme. Das Horrorszenario von vier Bewusstlosen wird schnellstens aufgehoben, als die vier aus dem Bob aussteigen und zu Fuss die Ziellinie überqueren, um sofort anschliessend im Medical-Raum durchgecheckt zu werden. Einzig der Grösste von den tapferen Jungs klagt später über leichte Kopfschmerzen, da sein Kopf respektive Helm entsprechend vorstand und stärker an die Eiswand geknallt war. Ich dachte eigentlich immer, dass Grosse beim Bobfahren einen Vorteil haben, doch sollten sie keinesfalls viel grösser als die drei mit-eingepferchten Kollegen sein Am nachfolgenden Tag konnte in minuziöser Arbeit, in dem der ganze Bob bis in die kleinsten Teile zerlegt wurde, die Ursache der wiederholten Stürze eruiert werden, es handelte sich um einen, die Steuermechanik behindernden, sich verkeilenden Kabelzug und keineswegs einen Pilotenfehler, auch wurde das Schmirgelpapier von jedem Verdacht freigesprochen.