Ende gut – alles gut?


Da ist er also tatsächlich, der lang ersehnte Termin beim Notar. Das heisst eigentlich kümmert sich der Notar in Frankreich nicht allzu sehr um den Immobilienhandel, es ist vielmehr die «Clerc», trivial auf Deutsch übersetzt, der Schreiberling, die sich selber aber «Notaire assistant» nennt, also sich ein enormes Upgrading verschafft. Wie berechtigt dies aber ist, werden wir im Verlauf der Verhandlung noch sehen. Sie heisst übrigens mit Namen Boys, hat aber weder mit einem jungen Boy noch mit dem extravaganten Künstler Beuys etwas am Hut. Doch kommt einem halt in diesem Moment doch ein Zitat von Beuys in den Sinn, dass nämlich «das Theater eine subventionierte Nichtbedürfnisanstalt ist». Der Gedanke an unser Theater mit dem Haus und dessen Verkauf war ja schon immer ein Nichtbedürfnis an erlebten Dramen und Komödien. Sein Zitat «Jeder Mensch ist ein Künstler» ist genauso an unser Haus angepasst, wenn wir an die tausenden von persönlich verbrachten Handwerksstunden denken.

Ein halbe Stunde vor dem Notar-Termin bekommen wir einen Anruf vom Immobilienhändler, ob es möglich sei, dass die Käufer noch schnell einen Blick auf und in das Haus werfen könnten, insbesondere auch wegen der Organisation des Zügeltransports in den engen Gassen und im Treppenhaus. Wir treffen uns vor der Haustüre in der Rue des Fabreries, der «Strasse der Handwerker», wobei in erster Linie das Haus Nummer eins für uns jahrzehntelanges Handwerk bedeutete, das gerade heute ein abruptes Ende erleben sollte. Und wie es sich für einen Facility Manager gehört, kicke ich vor dem Öffnen der Haustüre mit dem Fuss noch einen schwarzen Dreckhaufen schnell weg. Der Immobilienhändler will es aber genauer wissen, und beide erschrecken wir, als ob gerade Dracula persönlich vor uns stehen würde; denn es handelt sich  um einen toten Skorpion, der dann unter meinem Schuh mit dem bekannten knackenden Geräusch zerstampft wird. Eine ähnliche Situation war übrigens schon vor zwanzig Jahren der Fall, als eine Klassenkameradin unserer jüngsten Tochter mit uns in Grasse in den Ferien weilte und im Briefkasten ein grosses Ungeziefer sichtete. «Das ist sicher nur eine Kakerlake», war unsere Antwort, als wir realisierten, dass es ein lebendiger Skorpion war, der anschliessend notfallmässig sein irdisches Dasein verlassen musste. Der Tip, am Morgen wegen allfälliger Skorpione in die Schuhe zu schauen, ist demzufolge ungenügend, man sollte in Grasse auch noch den Briefkasten inspizieren. Ich bin mir nicht sicher, ob die Archäologen an solches Ungeziefer gewöhnt sind, ob sie es gar nicht beobachtet haben, oder ob sie es einfach nicht sehen wollen. Wir gehen jedenfalls ins Haus rein, für mich das allerletzte Mal.

Über jedes Stück Boden, jede Wand, jede Türe, jede Decke könnte ich Bände erzählen, doch wir gehen einfach die Treppe hoch. Mir scheint, dass ich einen ganzen Kopf grösser werde, aus lauter Stolz über die neu gestrichene Nobelpreis-Wand im Treppenhaus, über die zugegipsten Löcher in Decken und Wänden und die wahrscheinlich nur kurzfristig fehlenden Feuchtigkeitsspuren. Falls es sich wirklich um die Begutachtung der Zügelbreite handeln sollte, sind die Betrachtungen der Käufer problemlos. Falls es sich aber um eine letzte Inspektion der Problemzonen handelt, was ich viel eher glaube, haben sich die verbrachten Handwerker-Stunden, -Tage, -Wochen, -Monate ja sogar -Jahre doch noch gelohnt.

Fünf Anrufe auf dem lautlosen Mobiltelefon, alle in den letzten zehn Minuten und alle von meiner Frau, die ungeduldig vor dem Notariatsgebäude wartet. Der Immobilienhändler beruhigt, der Termin sei hier nicht so punktgenau und wir könnten uns jetzt auf den Weg zum Maître und seiner Clerc machen.

Da sitzen wir nun zu sechst, der Notar, der Immobilienhändler und die beiden Ehepaare, wobei die Archäologen mit verschiedenen Namen auftreten, was noch finanzielle Konsequenzen haben wird, die den heutigen Deal beinahe zum Platzen bringen. Die wichtigste Person in der Funktion der schreibenden Assistentin sitzt einen Stock höher online am Bildschirm und muss dem Notar immer wieder bei technischen, administrativen, aber auch vor allem inhaltlichen Problemen des Vertrags helfen. Glücklicherweise sind es nicht mehr wie bei früheren Überschreibungen fünfzig Seiten, die alle vom Notar vorgelesen und vom Käufer und Verkäufer signiert werden müssen, sondern alles ist digital auf dem Bildschirm und kann global gelesen und unterschrieben werden, Boys-Hilfe sei Dank. Beim Geld jedoch hört ja angeblich die Freundschaft auf. Wo denn die zweite Bankgarantie sei? Trotz tiefer archäologischer Ausgrabungen fehlt der entsprechende Beleg, woran auch ein viertelstündiges Telefongespräch mit der Bank nichts ändert. Der Notar besteht jedoch auf einer vorhandenen und unterschriebenen Bankbestätigung der zweiten Bank, die Hälfte des Betrags bei einer anderen Bank liegt zum Glück deklariert vor.

Und wieder tauchen die Bilder einer Fata morgana und eines geplatzten Deals auf, als Madame Boys auf die glorreiche Idee kommt, alle Dokumente von der Käuferin, deren Bankgarantie vorliegt und von uns vollständig unterschreiben zu lassen, und dass der Käufer zu einem späteren Zeitpunkt bei dann vorliegender Bankgarantie unterschreiben wird. Wie lautet doch Joseph Beuys Spruch über das Geld: «Man soll es weiter geben, dies aber jetzt; denn das Geld wird folgen.» Wir geben also das Haus weiter, genau jetzt, doch ob jemals das Geld folgen wird? Neben der fehlenden Bankgarantie schmilzt der vereinbarte Betrag ohnehin wie Butter an der heissen provenzalischen Sonne, in dem mehrere tausend Euros für den Staat abgezweigt, für noch folgende Unkosten zurückbehalten werden und sogar durch den Verkäufer der Notar zu bezahlen sei, da ein Bruttopreis vereinbart sei. Dies spielt jedoch alles keine Rolle, wenn der restliche Hauptbetrag tatsächlich je überwiesen werden sollte.

Ein sehr freundlicher und fester Abschieds-Händedruck vom Notar scheint seine Sicherheit zu bestätigen, unsererseits dürften die Hände wohl eher einen schwachen, unsicheren Eindruck hinterlassen. Unsere Zweifel werden durch grösser werdende Zuversicht ersetzt, so dass wir die Käufer, die übrigens äusserst nett sind, noch zu einem Kaffee im benachbarten Bistrot einladen. Jetzt erfahren wir auch, weshalb es bei der ersten Immobilienagentur, bei der wir zuerst einen Exklusivvertrag hatten, überhaupt nicht geklappt hat. Die zukünftigen Käufer haben dort mehrfach ergebnislos angerufen und nie eine Antwort auf ihr Anliegen erhalten. Als wir dann aber den contrat exclusif in einen contrat simple umwandeln wollten, bei dem wir offiziell auch noch andere Immobilienagenturen involvieren durften, kam ungeahnter Widerstand auf, der dann aber mit Hinweis auf das kleingedruckt abgelaufene Datum verpuffte. Kleingedrucktes hat offenbar auch der Notar gesichtet, in dem noch eine wichtige Unterschrift fehlt. So kommt er tatsächlich zu uns ins Bistrot und holt sich höchstpersönlich die fehlende Unterschrift.

Die Käufer seien uns sehr dankbar für unsere Bereitschaft und auch für den schnellen Termin, denn ihr Sohn gehe in Grasse zur Schule, und sein täglicher Schulweg sei so um Stunden kürzer. Ob sie uns wohl in fünf Jahren auch noch dankbar sind, wenn all die Altstadt- und Altbauprobleme wieder an die Oberfläche dringen? Wir jedenfalls sind überglücklich; denn nach zwei spannenden Wochen sind die Euros tatsächlich auf unserem französischen Konto angekommen, und wir haben nur noch das vom Rumpelstilz-Märchen her bekannte Problem, wie man aus Stroh Gold macht, oder wie französische Euros in Schweizerfranken umzuwandeln sind. Doch vielleicht sind ja Euros gar nicht nur ein Strohfeuer?