Der Schleimer


Es gab einmal eine französische Baufirma mit guten Referenzen, einen französischen Architekten mit noch besseren Referenzen für Altstadt-Renovationen und mittendrin eine Schweizer Familie, die nichts anderes wollte, als das Haus in der Grasser Altstadt etwas zu verschönern, das marode Dach zu sanieren, aber vor allem auch durch den Ausbau des nur bekriechbaren Estrichs einen Stock zu gewinnen. Wir wussten schon lange, dass wir uns in einem «Secteur sauvegardé» befanden, also so ungefähr einem überbehüteten, antiken Quartier; denn ein Projekt mit Zusatzstock und Bau einer Terrasse war schon vorher an den «Architectes des bâtiments de France» gescheitert. Gegenüber diesen traditionellen Bauverhinderern ist der Schweizer Heimatschutz ein Lehrlingsbetrieb. Wahrscheinlich hatten sie Angst davor, dass die dunklen Grasser Gassen aufhellten und dann nicht mehr den klassischen Hundekotgestank aufwiesen, vielleicht wäre sogar Grenouille, der kriminelle Hauptdarsteller in Süsskinds Buch «das Parfum» gleich aus Grasse wieder ausgewandert, anstatt seine vielen Frauen mit olfaktorischen Genüssen umzubringen.

Die Variante zwei ohne Terrasse entwickelt sich somit zum ultimativen Plan, doch noch ein Stockwerk zu gewinnen. Der Kostenvoranschlag, Devis genannt, hat ganz und gar nichts mit Devisen zu tun, statt Auszahlungen gibt es häufige Nachzahlungen, aber immerhin beträgt dieser Devis inklusive Bau und Architekt nur die Hälfte von einer anderen Firma. Der schleimige, sich chamäleonartig anpassende Architekt schwärmt so vom neuen hohen Zimmer, dass wir schon früh ahnen, dass viel Heuchelei dahintersteckt.

Nach diversen finanziellen Zustüpfen für das erfolgreiche Gedeihen des Bauunterfangens  – das Checkheft ist schon bald leer – nimmt der dritte Stock langsam Form an, in dem die Decke des zweiten Stocks gesenkt wird, und das Dach mit Erhöhung des sogenannten Kniestocks illegal angehoben wird. Als Propriétaire respektive Bauherr lasse ich mir das Ganze vom Inhaber des Baugeschäfts und vom Schleimer erklären, wobei dieses Realisierungsgespräch aber noch ziemlich Euro-belastend wird. Immerhin entsteht ja aus einem Kriech-Estrich eine bewohnbare Stube mit grossem Dachfenster. Ich komme mir wie Pinocchio vor, als er dem Fuchs und dem Kater begegnet, die ihm anraten, sein Geld in einem Wunderfeld zu vergraben, wo es sich dann auf Nimmerwiedersehen verabschiedet. «Au revoir» in sechs Wochen, und «sie werden dann von uns  mit Photos auf dem Laufenden gehalten.»

Nach drei Wochen bekommen wir überraschenderweise tatsächlich ein Bild, so nebenbei mit der dringenden Aufforderung, für den kontinuierlichen Fortschritt der Baustelle einen weiteren Check, mittlerweile den etwa sechsten, zu schicken. Das Bild lässt uns jedoch erschrecken; denn der betreffende Zusatzstock sieht darauf sehr niedrig aus, an ein Stehen am Rand kaum zu denken. Nach kurzem Kriegsrat und der Einsicht, dass sofort jemand nach Südfrankreich fahren muss, um das Ganze vor Ort zu besprechen, organisieren wir für unseren Sohn eine Flugreise. Er hat den konkreten Auftrag, dem Schleimer mitzuteilen, dass das Zimmer viel zu niedrig sei, und man darin nicht stehen könne, und dass dies sofort zu korrigieren sei.

Schon Tags darauf kommt unsere familieninterne Kontrolle auf der Baustelle an und sieht einen kleinen, hageren, dünnen Mann mit Notizblock in der Hand, auf den unsere Beschreibung des Schleimers haargenau passt. Mit der Vorspielung eines wutentbrannten Ausdrucks, beschimpft ihn unser Sohn, die Vorgaben nicht eingehalten zu haben, und dass der Raum viel zu niedrig sei, und dass seine Eltern deshalb enttäuscht und wütend seien. Typisch, dass der Schleimer mit keiner Miene reagiert, sein Notizbuch einsteckt und das Haus verlässt. Jetzt möchte unser Familienkontrolleur noch den zweiten Teil seiner Schimpftirade beim Baumeister loswerden, als er realisiert, dass er sogar am Zimmerrand  unter den schrägen Dachbalken gut stehen kann. Er wundert sich, dass alle anwesenden Handwerker lachen und ihm dann erklären, dass der beschimpfte Mann nicht der Architekt gewesen sei, sondern dass zum allerersten Mal eine offizielle staatliche Kontrolle in der Person dieses Mannes auf die Baustelle gekommen sei, um alles nachzumessen, da wahrscheinlich Nachbarn von einem zu hohen Umbau berichtet hätten. Nach der Beschimpfung, dass alles viel zu niedrig sei, habe er seine Aufgabe als erledigt betrachtet, und die Baustelle wurde nie mehr kontrolliert. Ein für das Schicksal dieses Hauses entscheidender Zufall! Weniger Zufall ist dann noch das Erscheinen des Baumeisters, der den siebten, aber bei weitem noch nicht den letzten Check behändigt, schliesslich ist ja Pinocchio auch mehrmals dem Fuchs und der Katze begegnet. Ein Schleimer ist gemäss Wikipedia übrigens ein Heuchler und Opportunist. Wie beschrieb doch Heinrich Heine so schön diese scheinheilige Doppelmoral mit «öffentlich Wasser predigen und heimlich Wein trinken». In der Medizin versteht man unter Opportunismus die Eigenschaft, dass aus harmlosen Parasiten bei Abwehrschwäche des Wirts gefährliche Krankheitserreger entstehen.