Der Petit-Suisse ist gewachsen


Vielleicht erinnern Sie sich an die Erlebnisse des Petit-Suisse in meinem ersten Band «Der Euro-Doc als Petit-Suisse». An der Fussball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien ging das Schweizer Nationalteam mit 2-5 gegen La Grande Nation unter, und ich als damals schon gewählter, aber noch nicht aktiver, Doc dieses Teams musste mir beim Warten auf ein Mietauto im Flugplatz Nizza ein ums andere Mal, in der IT-Sprache ist dies eine Endlos-Schleife, diese fünf Tore der Franzosen anschauen, ohne auch nur ein einziges Mal ein Schweizer Tor sehen zu können. Die Warteschlange vor der Autovermietung war so gross, dass ich diese Tore sicher weit über hundert mal über mich ergehen lassen musste.

Wie unendlich gross war deshalb die Freude, als unsere Nationalmannschaft kürzlich an der wegen Corona um ein Jahr verschobenen Europameisterschaft am 28. Juni 2021 Geschichte schrieb. Dass wir diesen historischen Sieg live, wenn auch nur an einem kleinen Handy-Bildschirm in Portugal, miterleben konnten, war einem technischen Zufall zu verdanken, in dem ich bisher noch nie im Ausland erfolgreich die «Play-SRF-Taste» gedrückt habe, immer hiess es, dass dies im Ausland nicht funktioniere. Entweder sind in diesem Spiel wirklich alle Dämme gebrochen, oder aber es gibt den von den Fans immer angerufenen Fussballgott tatsächlich.

Mein Frau und ich waren gerade auf einer Portugal-Rundreise und übernachteten in Figueiera da Foz an der Atlantik-Küste in einem grossen Hotel mit selbstverständlich grossem TV-Bildschirm im Zimmer. Das Problem war einfach , dass sich die Portugiesen keinen Deut für das fussballerische Knowhow der kleinen Schweiz interessierten und somit der prognostizierte Sieg von Frankreich im voraus schon klar war, und dieses Spiel auf keinem der über hundert vorhandenen Sender übertragen wurde. Wahrscheinlich war es auch ein Zeichen der grossen portugiesischen Enttäuschung, dass ihr eigenes Team am Vorabend im Achtelfinale gegen Belgien ausgeschieden ist.

Mit hervorragend gefüllten Bäuchen nach einem feinen portugiesischen Nachtessen, wobei der einheimische Wein keinesfalls an das Niveau des Essens herankam, setzten wir uns vor den Fernseher und suchten verzweifelt nach Fussball-Action, was uns selbstverständlich versagt blieb. Als wir dann im Blick-Liveticker das aktuelle Resultat von 1-2 sehen, wollten wir schon aufgeben. Doch dann kam der zufällige Klick auf die SRF-App, und siehe da, 22 Minifussballer sprangen auf dem Natel-Display hin und her. Und da schiesst le grand Monsieur Pogba höchstpersönlich fünfzehn Minuten vor dem Spielende das standesgemässe 3-1. Wir sind also schon bald wieder auf dem Stand der WM sieben Jahre früher, mit der Schmach der fünf Gegentore.

Doch wäre der Eurodoc mit seiner Doctrine zusammen nicht so fussballbegeistert, wäre er nie Fussballdoc geworden, und seine Doktrin enthielt schon immer ein nur positives Gedankengut. Also eigentlich ganz und gar nicht aufs Bett liegen, langsam eindösen, und beim sich abzeichnende Debakel in der rumänischen Hauptstadt Bukarest immer somnolenter zu werden. Aber bei der La Grande Nation ist bei weitem nicht mehr der Napoleonische Stolz wie Ende des 18. Jahrhunderts vorhanden, auch wenn sich zu De Gaulles Zeiten ein Comeback abzeichnete, sondern «grande» ist nur noch die Einbildung und Selbstüberschätzung einer ganzen Nation, so auch der elf Fussballspieler mit dem Gallischen Hahn als Wappentier auf der Brust.

Da sind mir unsere teilweise nichtsingenden Schweizer sympathischer, zumal sie in diesem Spiel wegen vorhergehender medialer Schelten im Stolz verletzt wurden, und zumal sie normalerweise nicht Meier, Müller oder Schmid heissen, auch ein Iten tönt zu trivial, um dabei zu sein, sondern gehäuft Buchstaben wie C, J, Q und X vorhanden sind. So war es keineswegs verwunderlich, dass Seferovic und Gavranovic mit je einem Tor explodierten und die Petits-Suisses definitiv La Grande Nation überholen liessen. Dass dieser französische Schmerz noch immer tief vorhanden ist, erfuhren wir kürzlich an der Côte d’Azur, als wir bei einer langen Fahrradtour an einem Strassenimbiss hielten, um ein Cola zu bestellen. Voller Stolz präsentierte uns die Wirtin einen Raphael auf den Cola-Büchsen, den wir zuerst gar nicht interpretieren konnten, PR-technisch ist es ohnehin besser, wenn die französischen Spieler nicht mit Fussball identifiziert werden. Immerhin kam uns noch Varane in den Sinn, was uns die Bemerkung erlauben liess, dass er vor sechs Wochen gegen uns verloren habe. Zähneknirschend teilte uns die Wirtin mit, dass das Cola für uns leider doppelt so teuer sei.