Der Huissier


Wissen Sie , was ein Huissier ist? Ich auch nicht, obwohl ich ihn kennen gelernt habe. Die offizielle Übersetzung ist ein Gerichtsvollzieher, im Mittelalter war das wohl der mit der Axt zum Schafott eilende Scharfrichter. Geköpft wird man heutzutage in Frankreich zwar nicht mehr, aber finanziell geschröpft. Doch schön der Reihe nach.

Am Anfang steht eine unbewohnte, möblierte Wohnung in Grasse, die von meiner Schwiegermutter bis zum Umzug in unser Haus gegenüber bewohnt wurde. Der Gedanke auf ein regelmässiges Mieteinkommen ist verlockend, und ein wenig zeigt sich auch ein schlechtes Gewissen, weil die Wohnung meistens unbewohnt ist. Die Immobilienagentur übernimmt alles, von der Mietersuche bis zum Vertrag und Eintreiben des Mietzinses, so steht es wenigstens in den Unterlagen. Leider verliert der rechtschaffene Bäckermeister schon bald seinen Job als Boulanger und nimmt dann seinen, genauso unterbeschäftigten Sohn, chômage genannt, mit seiner Freundin in die Wohnung. Doch statt dass dadurch der Mietzins gesichert wäre, bleibt er vollständig aus.

Pas de problème tönt es seitens der Immobilienagentur, er müsse bezahlen, und falls er kein Geld habe, bezahle der Sozialstaat. Die Quartiere mit den sogenannten HLM-Wohnungen ( Habitation à loyer modérée, respektive Sozialwohnungsbau) werden von uns schon seit Jahren, wie der Weihrauch vom Teufel, gemieden; denn aus diesen «modernen» Slums ist es schwierig, unbeklaut und unüberfallen herauszukommen. Und wir sind auf dem besten Weg, ein neues HLM-Quartier aufzubauen.

Der Ex-Boulanger tut uns ja auch leid; denn er möchte gerne arbeiten, «und er stünde kurz vor einem neuen Job», wie er uns versichert, «und dann bezahle er uns selbstverständlich die ausstehenden Mieten.» Nach über einem Jahr zinslosen Darlehens an das chancenlose Startup-Unternehmen und diversen eingeschriebenen Briefen an gemäss französischer Post unbekannte Adressen, empfiehlt uns die Immobilienagentur den Rechtsweg. Wir beurteilen diesen fälschlicherweise als illusorisch, füllen aber dennoch die entsprechenden Meldungen und Formulare aus.

Wir staunen nicht schlecht, als bei unserer nächsten «Inspektion» die Wohnung bei offener Tür leer steht. Doch was heisst leer? Die Möbel liegen defekt auf dem verdreckten Küchenboden, zum Glück verstehen wir Petits-Suisses etwas von Lawinen; denn bei dieser Staublawine besteht tatsächlich akute Erstickungsgefahr. Die Kühlschranktüre ist so dreckverklebt, dass sie nicht mehr aufzubringen ist, und der Gaskochherd hat verblüffende Ähnlichkeit mit einem Elektroherd, der aus lauter verglühten Platten besteht. Was tun? Offiziell dürfen wir die Wohnung ja nicht betreten. So schliessen wir sie halt ab, allerdings mit den gleichen Schlüsseln, die der Bäcker und seine Fluchthelfer auch noch besitzen. Ein offizieller Gerichtstermin sei nicht mehr weit weg, wird uns versichert. Kaum zu Hause in der Schweiz, kommt tatsächlich ein Aufgebot für einen Gerichtstermin. Der ist zwar äusserst ungelegen, da es aber heisst, man müsse persönlich anwesend sein, wird ein Flug gebucht.

Es giesst aus allen Kübeln, als ich den Gang in den Palais de Justice antrete. Die grauen Hosen sind schwarz vor Nässe, und die wenigen Haare auf triefendem Haupt lassen das untrügliche Gefühl zu, direkt unter dem schon früher beschriebenen Jet d’eau zu stehen. Dennoch falle ich mit Kittel und Krawatte gar nicht so auf. Meine Verhandlung beginne um Punkt neun, und ich soll auf keinen Fall zu spät kommen. So gehe ich dann eine Viertelstunde zu früh in den Raum, der mit Tribunal angeschrieben ist, und erschrecke zu tiefst, da dies ein riesiger Gerichtssaal ist, grösser als jedes Auditorium maximum, das ich bisher an Universitäten gesehen hatte. Ich komme mir eher vor wie im riesigen Colosseum in Rom, wo Cäsar seinerzeit Brot und Spiele inszeniert hatte. Was mich aber sehr beeindruckt und mir richtiggehend Angst einjagt, sind die vielen Gestalten in ihren langen schwarzen Talaren. Dutzende von Richtern, das kann ja gar nicht sein? Immerhin sind in diesem Amphitheater auch noch etliche Zivilisten wie ich anwesend.

Schlag neun öfnnet sich die Tür und es tritt das hohe Gericht in ebenfalls schwarzen Talaren und Hüten ein. Ich erinnere mich an Bilder vom Ku-Klux-Klan, der aber eher in Weiss auftritt. Alle Zuschauer und Beteiligten im Circus Maximus schiessen auf und ehren das eintretende Gericht mit ihrem Standing ohne Ovation. Wieder im Sitzen starren wir alle gebannt auf die vier Richter in der Mitte der Arena. «Cas numéro un und irgendein Name» wird aufgerufen, und schon treten zwei von diesen Talarierten den Weg in die Mitte an, so dass ich realisiere, dass dies die Vertreter von Partei und Gegenpartei sind. Hätte ich doch nur auch einen Rechtsanwalt beauftragt, meinen Fall zu vertreten. Sie wollen gerade die Aussagen der Parteien vor dem Richter anhören, als die Tür aufgeht, und ein verspäteter Aufgebotener die Aufmerksamkeit des ganzen Saals, die Richter miteingeschlossen, auf sich zieht, es ist doch tatsächlich mein Ex-Boulanger in zerrissenen Jeans.

Die Fälle werden jeweils rasch abgewickelt, entweder direkt durch den Richter entschieden und seine zwei Schreiberlinge schriftlich festgehalten, oder es heisst, dass es noch weitere Abklärungen braucht, und der Fall verschoben wird. So etwa als siebzehnter Fall werden dann Monsieur Backes und der Bäcker aufgerufen, als der Richter sofort realisiert, dass dies die verspätete Person ist. Aus einem schüchternen Petit-Suisse wird sogleich ein mutiger Gladiator, der dem Richter kurz und bündig erklären darf, dass er seit über einem Jahr auf den Mietzins dieses Herrn warte, und dass die Wohnung völlig verwahrlost sei. Was er denn dazu zu sagen habe, wird le Boulanger gefragt. Ja, das sei tatsächlcih wahr, und er entschuldige sich, kein Geld zu haben. Nach einem kurzen richterlichen Blick zu mir, folgt die Aussage, dass ich im Recht sei, à cent pourcents, und dass ich wieder über die Wohnung verfügen könne. Ich solle mich  nur noch mit dem Huissier in Verbindung setzen, dann sei alles definitiv geregelt.

In der Hoffnung auf vollständige Erledigung dieses Falls und mit dem Gefühl eines Olympiasiegers, lasse ich mir die Adresse des Huissiers geben. Ein grosses Gebäude mit vielen Angestellten, aber offenbar nur einem einzigen Scharfrichter respektive Gerichtsvollzieher. Eine nette Sekretärin erklärt mir geduldig, dass ich etwa vier Wochen auf den schriftlichen Entscheid warten müsse, und dann mit dem Huissier einen Termin vor der Wohnung vereinbaren könne.

Einige Wochen später ist es dann tatsächlich soweit, so dass wir mit dem Huissier einen Termin vor der betreffenden Wohnung vereinbaren. Diese Wohnung ist für uns schon lange wieder zugänglich, und wir verfügen auch als einzige über den kleinen Schlüssel, mit dem wir jeweils die Türe abgeschlossen haben. Wir sollten ihm jetzt aber auch noch den grossen Schlüssel in die Hand geben, und wirklich schliesst er mit diesem das zweite Türschloss zu und auch gleich wieder auf, übergibt uns den Schlüssel, und verkündet mit tiefer, würdevoller Stimme, dass die Wohnung  jetzt wieder uns gehöre. Unser «merci beaucoup» erstickt leider in unserer Kehle, da er gleichzeitig betont, dass uns dies tausend Euro koste, wir sollten doch bitte jetzt einen Check ausfüllen. Das Gladiator-Gen, das ich glaubte, entwickelt zu haben, verfliegt auf der Stelle, und wir fühlen uns kaum besser als le Boulanger im Tribunal, beiden ist das Geld ausgegangen!