Der Eurodoc


Freude herrscht, den St. Galler Bus an den Bahnhof zu besteigen, um ab Basel nach Nizza fliegen zu können. Kaum im Bus, gehen jedoch alle Gedanken an den Nordpol mit Eis und Schnee statt an die Côte d’Azur mit sonnigem Charme und Wärme. Das ultimative Ziel der Nizza-Reise ist zwar der Einbau einer Klimaanlage in der neuen Wohnung in Mandelieu, doch dass die Akklimatisation schon im Bus beginnt, ist eher überraschend. Glücklich ist, wer im Sommer Winterpullis trägt, mindestens bei den Klimamachern der St. Galler Busbetriebe, genannt VBSG. Wenn ich so im Bus rumschaue, sehe und höre ich lauter potentielle Patienten, in dem die Frierenden und Schlotternden auch husten und niesen, und dank dieses viralen Kältestresses werden die Erkältungen epidemische Ausmasse annehmen. Das Wort Erkältung, die Österreicher nennen es Verkühlung, ist jetzt ein für allemal geklärt, auch die Definition der St. Galler Verkehrsbetriebe VBSG mit Verkehr(te) Busse Sind Gekühlt. Bei den St. Galler Eismobilen dürfte schon bald draufstehen: «Gesponsert by FMH», der Schweizerischen Ärzteorganisation. Das ist sie also, diese Energiewände, an Stelle von Wandel und wenden sind es unbezwingbare Eiswände oder vielmehr Einwände, vielleicht ist ja sogar Donalds Getrumpel zum Pariser Klimaabkommen schon in St. Gallen angekommen.

Eisern verharren wir in unseren T-Shirts und besteigen den klimatisch einwandfreien Zug nach Basel. Das optimale Klima dürfte vermutlich durch eine nicht funktionierende Klimaanlage oder ganz einfach durch das Alter des Wagens bestimmt sein; denn auch bei der SBB fühlt man sich oft ans Nordkap versetzt. In Basel besteigen wir als letzte den Eurobus Nummer 50 an den Flughafen, Verzeihung Euro-Airport, und schon bald sehnen wir uns im übervollen Bus an die Kühle der St. Galler Verkehrsbetriebe. Da mir ein Sitzplatz freigehalten wird, habe ich schon den grossen Verdacht, dass ich einen Altersbonus habe, doch dürfte dies eher durch die Rückwärtsfahrt dieses Sitzes bedingt sein. Jetzt kommen sie tatsächlich wieder hoch, diese träumerischen Glücksgefühle nach Sonne, Wärme, Pétanque und Pastis, doch werden sie bei der Hektik des Aussteigens schnell vertrieben.

Die Gepäckkontrolle geschafft, lassen wir uns alsbald in die bequemen Sitze beim Gate fallen, der Cappuccino trägt das Seine zum Wohlbefinden bei. Die Dame nach uns kauft sich einen gekühlten Rosé, so dass wir den Fehler schnell realisieren, nicht ein typisches Südfranzösisches Getränk gekauft zu haben, das uns der Côte d’Azur noch näher gebracht hätte. So nehme ich den Kriminalroman «Madame le Commissaire» in die Hand und lese darin, wie in der Nähe von St. Tropez ein gefälschtes Bild in Zusammenhang mit einer Entführung entdeckt wird. Die Kommissarin verfehlt gerade beim Boules-Spiel wegen des Läutens ihres Handys mit der letzten Kugel das Cochonet, als es neben mir kracht und stöhnt. Da stürzt doch einer tatsächlich im spannendsten Moment auf sein Gesicht und seine Stirn, und da es mir Hippokrates nicht verzeihen würde, nicht nachzuschauen, kümmere ich mich um den doch ziemlich verwirrten, am Boden liegenden, älteren Herrn. Sein Puls ist zwar kaum spürbar, doch sind seine Atemzüge beruhigend, ja beinahe umwerfend; denn es riecht einwandfrei nach Pastis. Herzkrank sei er, und hohen Blutdruck habe er, doch der Orientierungssinn geht ihm völlig abhanden. Ich verzeihe ihm deshalb seine Aussage, dass er mit den «deux petits Pastis» die Realität so schlecht beschreibt, so dass sein danebenstehender Bruder den Einwand wagt, mit der verbleibenden Flasche Pastis wäre nicht mehr lange Boules gespielt worden. Der Geruch des frischen Pastis ist zwar vorzuziehen, doch lässt einen diese Atemluft an den baldigen Abflug nach Nizza denken.

Nachdem Monsieur wieder bei klaren Sinnen mit kräftigem Puls ist, und das kreideweisse Gesicht in ein dezentes Rot mit vorbestehendem Punktum maximum an der Nasenspitze übergeht, sind mittlerweile zwei Rettungssanitäter eingetroffen, so dass die Dramatik ihren Höhepunkt erreicht. Mit Freude höre ich vom systolischen Blutdruck von hundertsiebzig, was die beiden Helfer an eine Blutdruckkrise denken und sie selber erbleichen lässt. Beim vorher kaum spürbaren Puls spricht dies jedoch für die wiederlangte Kreislaufstabilität. Ich beurteile den Fall als abgeschlossen und teile dem Verantwortlichen der Fluggesellschaft mit, dass ich fünf Reihen hinter dem Nichtmehr-Patienten sitze und für den Notfall schauen könnte.

Durch die mittlerweile verstrichenen dreissig Minuten ist das Boarding schon so weit fortgeschritten, dass ich nicht mehr lange anstehen muss. Und wer sitzt da auf einer Bank neben dem verantwortlichen Personal, Monsieur Pastis und sein Bruder! Sie müssten noch auf den Arzt warten, der dann über die Flugfähigkeit entscheide. Der Verantwortliche entschuldigt sich, dass wir auf französischem Hoheitsgebiet seien, und deshalb ein französischer Arzt entscheiden müsse. Ich wusste ja schon immer, dass ich kein Eurodoc bin! Ich halte Ausschau nach den, zwar barmherzigen aber wenig entscheidungsfähigen, Samaritern, doch haben sich die beiden schon lange aus dem Staub gemacht und Monsieur Pastis seinem Schicksal überlassen.

Mittlerweile sitzen wir alle angeschnallt im Flugzeug, die Türen werden gerade geschlossen, doch sind zwei Plätze fünf Reihen schräg vor uns immer noch leer. Meine leise Enttäuschung wird grösser, dass ich es nicht geschafft habe, die beiden Brüder in ihre viel schönere Heimat mitfliegen zu lassen, als mir jemand lächelnd auf die Schultern klopft und ein lautes «merci beaucoup» zuruft. Es entzieht sich leider meiner Kenntnis, ob der französische Doc doch noch in letzter Sekunde gekommen ist, oder ob ich tatsächlich zum ersten Mal in meinem Leben den offiziellen Status eines Euro-Docs erreicht habe.