Der Corona-Engadiner, zweite Ausgabe


Wer von uns Giubilaras und Giubilers hätte vor einem Jahr gedacht, dass dieses Virus-Theater noch weit über ein ganzes Jahr hinaus dauert. Ich selber, der ich doch rund vier Jahrzehnte mit den Viren in der Praxis an vorderster Front konfrontiert war, jedenfalls nicht. Ich bezeichnete diese parasitären Schmarotzer schon immer als meine lieben Freunde, von deren Wirkung ich lebte, obwohl in diesen vielen Jahren auch für einen Allgemeinpraktiker kaum eine effektive Behandlungsmöglichkeit existierte. Ein gesunder Lebensstil, verbunden mit Sport, war eine immer brauchbare und gern gehörte Empfehlung. Bei vielen dieser Krankheiten war das körpereigene Abwehrsystem der alles entscheidende Faktor, gegebenenfalls unterstützt durch eine Impfung. Durch letztere wurden immerhin lebensgefährliche und invalidisierende Krankheiten wie die Pocken oder auch die Kinderlähmung ausgerottet, was durch genügend und zum richtigen Zeitpunkt vorhandenen Impfstoff möglich war. Damals war aber auch der Bundesrat noch nicht so träge, industriefeindlich und linkslastig, und das BAG war noch tatsächlich das Bundesamt für Gesundheit und nicht, wie es die Weltwoche kürzlich mit Recht titulierte, das Bundesamt des Grauens, das neben vielen anderen Versäumnissen vergass, genügend Impfstoff zu bestellen, oder das Tests ein Ablaufdatum haben.

Falls unsere Magistratinnen und Magistraten zu Bern wieder einmal eine Tagsatzung, wie dies bis 1848 üblich war, einberufen sollten, hätte diese wie schon damals kaum eine politisch entscheidende Bedeutung, wobei jegliche Parallelen zu National- und Ständerat zufällig und ungewollt sind. Und falls es tatsächlich ein Bundesratsmitglied wagen sollte, statt mit dem ÖV mit dem eigenen Auto nach Bern zu kommen, könnte man ihre Parkplätze mit «Impfalidenparkplätze» anschreiben.

Doch nach diesem politischen linken Exkurs zurück zum rechten Engadiner oder besser zum richtigen Nicht-Engadiner. Handelte es sich vor einem Jahr bei mir noch um eine Reise mit dem ÖV über den «Grenzfluss Rubikon» ins Engadin, sind es diesmal grüne Kilometer mit dem Merc-e-des nach St. Moritz. Nicht einmal der Julier mit seinen steilen Serpentinen kann der Batteriepower etwas antun, auch wenn der Verbrauch auf 80 Kilowattstunden pro 100 Kilometer steigt. Jeder elektrisch Versierte, so auch jeder Besitzer einer Photovoltaik-Anlage, weiss, wie viele Sonnentage es für diese Stromproduktion braucht, und der Umwelt- und Klimaschutz immer zwielichtiger wird, beim Gedanken an einen Individualverkehr mit grösstenteils e-Fahrzeugen.

In St. Moritz angekommen, staunen wir nicht schlecht, dass das Dorfzentrum völlig ausgestorben ist, und alle Modeläden wie Gucci, Armani, Prada und wie sie alle heissen, geschlossen sind. Wenigstens gibt’s bei Bucherer und Gübelin noch Uhren im Schaufenster zu betrachten, die den Wert eines e-Fahrzeugs um einiges übertreffen. Hier wird uns vor Augen geführt, wie gross der finanzielle Verlust durch die Corona-Pandemie wirklich ist, und wieviel individuelles Leid bei weitem nicht nur der Mode- und Uhrenindustrie widerfährt sondern auch dem Gastgewerbe und vielen anderen Branchen. Immerhin gibt’s am Beginn der Via Maistra an einem Imbiss-Stand neben der Bratwurst noch Bündner Spezialitäten wie Maluns oder Capuns, zumindest kann hier noch ein Unentwegter eine Mini-Existenz zelebrieren.

Wenigstens dürfen die Hotels im Kanton Graubünden ihren Betrieb offenhalten, aber nicht etwa, weil es von Bundesbern genehmigt wurde, sondern weil sie es mit Massentests geschafft haben, die Corona-Hotspots zu eliminieren. Im Hotel Waldhaus am See angekommen, steigen die Gedanken an den geliebten Skilanglauf wieder auf, so auch an ein vergangenes Treffen mit ausgezeichnetem Essen mit den Giubilaras und Giubilers vor zwei Jahren. Der aktuelle Blick aus dem Speisesaal fällt allerdings auf merkwürdige Hirnwindungen, die Teil einer sieben Meter hohen Skulptur des Briten Damian Hirst sind, und angeblich den Dialog zwischen Natur und Mensch darstellen. Um den Viren zu entfliehen, brauchen wir jedoch keine Hirngespinste in Form einer Skulptur, sondern selber ausgeübter Sport, der uns der Natur wieder näherbringt. Die Vorfreude auf einen Skilanglauf steigt.

Schon seit Monaten sind viele von uns für den 52. Engadiner angemeldet, und die Startplätze wären schon sehr knapp geworden, als der erneute LL-Down ausgerufen wurde, immerhin mit dem Angebot einer individuellen Absolvierung der 42 Kilometer. Somit war es schon vor einem Jahr der 52. und in einem Jahr wird es immer noch der 52. Lauf sein! Vielleicht werden ja dann dreimal 42 Kilometer absolviert, und der Lauf beginnt zuunterst im Bergell und führt bis Scuol im Unterengadin? Dass wir dieses Jahr beim Start in Maloja nur zu zweit sind, ist dem Umstand zuzuschreiben, dass einige von uns Jubilaren, die übrigens alle schon mindestens vierzigmal diese masochistische Veranlagung in zweiundvierzig Langlaufkilometer umwandelten, eine Stunde später starten. Doch mit so viel Rückenwind werden wir noch selten das Engadin hinuntergetrieben.

Tags darauf beim Treffen aller Giubilaras und Giubilers geniessen wir dann zusammen die wunderbare Strecke von Samedan nach Zuoz, wie schon ein Jahr zuvor stressfrei ohne Geschubse und ohne Stockspitze im Bauch. Wir sind soviele, dass wir die Gruppenfoto zweiteilen, damit nicht der Verdacht auf Coronaskepsis entsteht. Wir freuen uns jetzt alle auf den wirklich 52. Engadiner am 13. März 2022.