Das Kabel


«Alles ist nur eine Frage des Kabels» lese ich gerade in der NZZ am Sonntag. Mindestens interpretiert dies das Familienunternehmen Brugg an gleichnamigem Ort so. Zukünftig werde man ein e-Auto in zehn Minuten aufladen können. Ich sehe sogar schon den feinen Espresso an den italienischen Raststätten entschwinden; denn kaum habe ich das Gabinetto verlassen, zeigt der Schnellader hundert Prozent an, was den e-Raser wohl eher hinters Steuer als an die Theke führt. Einzig die Stadt St. Gallen scheint den Ruf der Zeit nicht zu kennen, sie fördert nur e-Autos unter 60’000 Franken Neupreis, zudem sind Schnelladestationen  verpönt oder erhalten keine Betriebsbewilligung. So arbeiten halt in ungeheizten Räumen ohne Klimaanlagen nur noch die ganz originellen Grünen ohne PC und Computer und kommunizieren nur mit Morsezeichen von Kaffeetassen und -Löffeln. Hyperaktiv werden sie höchstens am Freitag Nachmittag in Erwartung des nahen Wochenendes, des Freitag-Klimastreiks oder sogar des Freitags-Gebets.

In den Herbstferien fahren wir einmal mehr mit den Fahrrädern ins schöne Piemont. Unser Agriturismo Carlincarlota ist einmal mehr mit phantastischer Aussicht, dem besten Barbera superiore, Grissinis und Salame bereit. Einzig die Normalstrom-Steckdose ist noch unverändert, und das angehängte Ladekabel zwischen Steckdosen an der Hauswand und dem Fahrzeug bleibt verdächtig kalt. Der Beweis des geringen Energiefluses zeigt sich am Display im Fahrzeug, in dem der volle Ladezustand in vier Tagen erreicht sein wird. Die oben erwähnte Firma Brugg kühlt sogar die modernen Kabel, und wir haben diesen Aggregatszustand kostenlos aber leider auch sehr energiearm. Die Erhöhung der Stromstärke um zwei Ampères hat mich nämlich beim letztenmal den Zwischenstecker gekostet.

In Erinnerung des sehr mühsamen Stromgewinns in Savona bei der Fortsetzung der letzten Reise vor drei Monaten nach Südfrankreich, mit Erfolg erst bei der dritten Ladesäule, lässt uns dieses Mal vorsichtiger operieren. Selbstverständlich können wir das Fahrzeug nicht vier Tage am Tropf lassen, sondern ziehen die Infusion am dritten Tag, lassen den Verbrauch für die vorgesehene Fahrt nach Pavia inklusive einem Zwischenhalt in Tortona berechnen. Da das Gelände mehrheitlich fallend ist, ist die Stromrückgewinnung mit dreissig Kilometern erheblich, reicht aber doch nicht ganz bis Pavia. Das GPS führt uns in der Direttissima zu Tortonas wohl einziger Ladesäule, und die Freude ist gross, dass beide Anschlüsse frei sind. Der gewiegte Leser erahnt es schon, dass es keine Geschichte wäre, wenn alles klappen würde. Beim Schnellader auf der einen Seite gelingt es leider weder mit der rfid-Karte von Mercedes noch vom TCS eine Verbindung herzustellen. So wird der daneben liegende Langsamlader aktiviert, der tatsächlich und zu unserer grossen Überraschung Strom fliessen lässt, allerdings zwei Stunden für die vorgesehene Menge dauernd. Dies lässt sowohl die Stadtbesichtigung als auch den Cafébesuch verlängern.

Frisch gestärkt und frohen Mutes der erfolgreichen Ladung wegen erreichen wir das Auto und sind erstaunt, dass der daneben parkierte BMW mit Thurgauer Kennzeichen das Starkstromkabel eingelegt hat. So fahren wir nicht etwa ab, sondern opfern noch mehr Zeit, um herauszufinden, weshalb Thurgauer im Verkabeln den St. Gallern überlegen sind. Nach fünf Minuten kommt tatsächlich ein älteres Schweizerdialekt sprechendes Paar zum BMW, erlöst diesen vom Starkstromkabel und ist sehr erstaunt ob unseren ungläubigen Blicken. Sie hätten auch ein paar Anläufe gebraucht, dann habe es normal funktioniert. Kaum sind sie abgefahren, versuchen wir noch den stärkeren Stromanschluss, und siehe da, er funktioniert auch bei uns problemlos. Die Moral der e-Geschichte ist wohl, hartnäckig zu bleiben, nie zu verzagen und auch dem zehnten erfolglosen Versuch noch einen elften folgen zu lassen.

Das Frustpotential wird jedoch noch grösser, in dem das wegen der angepriesenen Elektrostation ausgewählte Hotel in Pavia keine eigene Ladesäule hat, sondern wir von der ausserordentlich freundlichen Receptionistin auf die dreissig Meter entfernte Ladestation beim Bahnhofplatz verwiesen werden. Leider stecken jedoch in beiden Ladesäulen Kabel, die Station mit zwei Fahrzeugen verbindend. Da im Display an der Säule ersichtlich ist, dass schon seit über sechs Stunden geladen wird, telefoniere ich zuerst der auf den Fahrzeugen abgebildeten Firma, doch  ist ein Kontakt zu einer 0800-Nummer im Ausland nicht möglich. So schreiben wir auch noch an die angegebene Mailadresse, um dann zehn Minuten später bei ausgebliebener Antwort den Versuch zu starten, das Kabel in unser Fahrzeug umzustecken, was jedoch nicht gelingt. Etwas erbost kehren wir an die Hotel-Reception zurück und erklären den beiden Damen (mittlerweile zwei, Verstärkung erahnend) den Sachverhalt. Ja das sei halt Pech, und ihre eigene Station im Hinterhof sei ausgerechnet defekt und erst in der kommenden Woche wieder einsatzbereit. Da wir später unsere Fahrräder in besagtem Hinterhof abstellen, erblicken wir jedoch weder eine Ladesäule noch einen normalen Starkstrom-Anschluss!

Sie hätten mal sehen sollen, wie schnell eine der Damen den Telefonhörer ergreift, um selber in der betreffenden Firma anzurufen, nachdem ich mitgeteilt habe, dass wir nur wegen der vorhandenen e-Station genau dieses Hotel ausgewählt haben, und ich dieses Manko an Booking.com weiterleiten werde. Die 0800-Nummer ist selbstverständlich bedient, und es ist dabei zu erfahren, dass diese Ladestation beim Bahnhof ausschliesslich im Privatbesitz der Mietwagen- respektive Carsharing-Firma ist und für Externe nicht verfügbar sei.

Das Glück ist uns jedoch hold, und in 400 Meter Distanz liegt das Gebäude der Firma ENEL, einem der grössten Energie-produzierenden Unternehmen mit einem jährlichen Umsatz von immerhin siebenundsechzig Milliarden Euro. Da werden wohl ein paar Kilowattstunden für uns drin liegen!  Doch leider ist auch diese Säule besetzt, und die mittlerweile hinterhereilende und hilfsbereite Dame der Hotel-Reception geht für uns in die Firma. Sie kommt jedoch unverrichteter Dinge wieder retour, da besagte ENEL am Freitag Abend kurz vor 16 Uhr schon geschlossen hat. Unsere Dame ruft die Telefonnummer auf dem tankenden Fahrzeug an und erfährt, dass die Säule, wahrscheinlich die einzige in der ganzen Stadt, in einer Stunde frei werde. So stellen wir unser Auto neben der Stromsäule in die Warteschlaufe und kommen noch zu einer Stadtbesichtigung auf dem e-Bike. Die beabsichtigte Fahrt an die Mündung des Ticinos in den Po brechen wir aus lebenserhaltenden Kamikaze-Gründen bei rasendem Autoverkehr jedoch ab.

Jetzt erst wird uns beim Betrachten der Bevölkerung auch klar, wie die Italiener die Maskenpflicht umgehen, in dem sie nämlich eine Zigarette rauchen, eine Pizza essen, einen Espresso schlürfen oder unendlich lang ein Handygespräch führen. Ein Polizist macht gerade eine Velofahrerin darauf aufmerksam, dass sie sofort auf dem Fahrrad eine Maske zu tragen habe, was uns augenblicklich wegen Hypoxie-Gefahr in die Flucht schlägt. Dass die Ladesäule erst beim fünften Versuch und nach gewaltsamem Rotationstrauma des Elektrosteckers funktionstüchtig wird, dürfte mittlerweile kaum einen Leser noch interessieren, da nicht nur wir die Nase e-voll haben.