Bauchschmerzen und die Zeit


In dieser Geschichte realisieren Sie, dass der Schreibende nach seiner Praxistätigkeit als eigentlich Pensionierter auf die Notfallstation ins Stephanshorn zu Hirslanden gerufen wurde. Obwohl er sich eher dem «Bergdoktor» als  Serien wie «Emergency Room» oder «Chicago Med» zugeneigt fühlt , war er  durch die persönliche Anfrage der Direktorin so geehrt, dass er diese Heraus- oder befürchtete Überforderung angenommen hat, als vorbereitendes Praktikum konnte man sich ja «Dr. House» oder sogar den «Good Doctor» zu Gemüte führen. Dass es mittlerweile fünf Jahre geworden sind, ist dann doch für alle überraschend.

Schon wieder so früh aufstehen, und ausgerechnet diese Nacht war wegen eines perlenden Rosés nicht gerade schlaf-affin! Das an meinen Arbeitstagen übliche Dopingmittel Ovomaltine heruntergeschlürft, nicht zu verwechseln mit Karims atmungsaktiven Glycoramin-Bonbons, und schon folgt der kleine Spaziergang, um das E-Auto vom Tropf resp. der Ladestation zu befreien. Die integrierten Animations- und Weckprogramme sollten sich eigentlich nicht erst nach zwei Stunden Autofahrt anpreisen, sondern viel eher bei den frühmorgendlichen somnolenten Trance-Fahrten an den Arbeitsplatz, immerhin lässt der integrierte Computer mit Spurtreue und Autopilot keine Berührungen mit der ach so nahen Tunnelwand zu. Der Totalalarm auf drei Fahrzeugseiten beim rückwärtigen Einparkieren zwischen zwei Bäumen hinter der Klinik Stephanshorn lässt mich noch ganz wach werden. Der auf jeder Seite übrigbleibende Zentimeter dürfte auch der Grund sein, dass ausgerechnet dieser Parkplatz meist noch frei ist.

Pünktlich zur vorgesehenen Zeit um sieben Uhr dreissig folgt der Abschied des Nachtarzts, mit der Hoffnung, dass  zwölf Stunden später in der gleichen friedlichen Athmosphäre wieder der Schichtwechsel stattfinden wird. Welche Rolle wohl dann die Zeit noch spielen wird? Damit es dem Doc auch nicht langweilig wird, kommt schon bald die Pflegerin ins Arztbüro und stellt die erste Patientin vor, mit dem an diesem Tag typischen Symptom von Bauchschmerzen, nichts ahnend, dass dies ein Aufwärmen für den abendlichen Grosseinsatz ist.

Da sich meine sonographischen Fähigkeiten zwar verbessern, aber mehr oder weniger auf Steinleiden und Blasenuntersuchungen beschränken, und somit Gallensteine bei früher erfolgter Gallenblasenentfernung ausgeschlossen werden können, ist ziemlich schnell klar, dass diese Patientin mit rechtsseitigen Oberbauchschmerzen eine Computertomographie benötigt, zumal die Entzündungswerte im Blut massiv erhöht sind und sie hohes Fieber hat. Bei nicht schmerzhafter Nierengegend auf der betreffenden Seite und nahezu unauffälliger Urinuntersuchung zweifle ich zwar sehr an der radiologischen Diagnose einer Nierenentzündung mit Abszessbildung, immerhin ist es eine Indikation für die Einleitung einer sofortigen, hochdosierten Antibiotikatherapie, selbstverständlich nach Abnahme von Blut- und Urinkulturen, die letztendlich anderntags dann auch zur Bestätigung des radiologischen Verdachts führen werden. Dass die Fortschritte in der modernen Medizin relativ sind, sieht der alte Doc einmal mehr auch in dieser Behandlung. Haargenau das gleiche Antibiotikum wurde nämlich vor siebenunddreissig Jahren unserer damals neun Monate alten Tochter bei der zum Glück frühzeitig diagnostizierten Hirnhautentzündung gespritzt, La Roche-cephin sei Dank.

Schon kommt die zweite Bauchschmerzpatientin, die überzeugt schildert, in den letzten drei Wochen nur zweimal Stuhlgang gehabt zu haben. Da sie bei bekannter Epilepsie doch ein paar stuhlhemmende Medikamente einnimmt, ist ihre dramatisch geschilderte Symptomatik sogar nachvollziehbar. Diesmal greife ich selbstverständlich zum Ultraschallgerät und kann bei schmerzfreiem Bauch und derben, mit Stuhl prall gefüllten Darmwalzen, die Verstopfung bestätigen. Das sonographische Placebo, verbunden mit einem kleinen Einlauf und Gabe von einem Darmentleerungsmittel, das vor Darmspiegelungen verwendet wird, lässt anschliessend die Patientin freudig und schmerzhaft aufschreien, in dem so grosse und harte Stuhlportionen entleert werden, dass sie sogar Angst hat, anschliessend entstuhlt ins Taxi einzusteigen. Ein paar beruhigende Worte meinerseit und die Zusicherung der Patientin, dass sie mich fortan in ihre Gebete einschliessen wird, lässt uns die freudige Trennung glücklich beenden.

Die nächste Anfrage erfolgt telefonisch, in dem eine Ärztin der Onkologie und Hämatologie der Universitätsklinik Zürich anfragt, ob wir in zwei Wochen auf der Tagesklinik eine gesunde Stammzellspenderin eine Stunde überwachen könnten. Sie bekommt ein, die Knochenmarkszellen stimulierendes Medikament, erstmals gespritzt, was offenbar beim ersten Mal überwacht werden muss. Erstaunlicherweise habe dies der Hausarzt abgelehnt, obwohl eine hohe Bezahlung winkt. Da diese Patientin nahe unserer Klinik wohnt, und so eine Extrafahrt nach Zürich gespart werden kann, wird dieses Anliegen entsprechend organisiert. Während beim Sekretariat der Tagesklinik administrative Zweifel verfliegen, verfinstern sich bei mir die Gedanken an den Stammzell-Empfänger mit einer Leukämie oder einem anderen bösartigen Leiden. Wir wissen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ausgerechnet das Universitätsspital uns am heutigen Tag eine viel grössere Gegenleistung erbringen wird.

Endlich mal ein Rücken, der schmerzt. Trotz des Alters von bald achtzig Jahren zeigt die modern gekleidete Dame voller Stolz, dass sie mit den Fingern bei gestreckten Beinen den Boden berühren kann, was mich ischiasmässig aufatmen lässt, und das Problem eher muskulär orten, wegen eines fehlenden Sehnenreflexes jedoch nicht ganz bagatellisieren, lässt. Ob es der Placeboeffekt der Notfallstation mit verabreichter Infusion ist oder tatsächlich die Schmerzmittel, werden wir nie erfahren. Tatsache ist jedoch, dass uns die Dame nach einer Stunde beinahe joggend und überglücklich wieder verlässt.

Die neurologisch schon genauestens vorabgeklärte, hysterisch schreiende Kopfweh-Dame bringt zum Glück die mit viel mehr Geduld versehene Assistenzärztin zur Verzweiflung. Ob es mein laut ausgesprochener Vorschlag einer hochdosierten Beruhigungsmedikation oder Überweisung in die psychiatrische Klinik ist, oder der von der Kollegin applizierte Sauerstoff, entzieht sich letztendlich unserer Kenntnis. Die kaum kooperierende Dame verlässt uns später tatsächlich mit einem leisen Lächeln auf den Stockzähnen. Ein grosses Lob gebührt ohnehin der hervorragenden Arbeit unserer Assistentinnen und Assistenten, die neben der sich immer bravourös einsetzenden Pflegerinnen, Pflegern und medizinischen Praxisassistentinnen wesentlich dazu beitragen, dass die Notfallstation auch in einer Privatklinik mehr als nur eine Existenzberechtigung hat.

Jetzt werden wir zum ersten aber nicht letzten Mal an diesem Tag mit der REGA konfrontiert, der Transport des in Mykonos angefahrenen Patienten mit Unterschenkelfraktur sei in einem Linienflug nach Zürich erfolgt, und er treffe via Ambulanz in gut einer Stunde bei uns ein. Mir kommen unangenehme Gedanken in den Sinn, als ein Autounfall einer FCSG-Nachwuchsmannschaft in Südafrika vor rund zwanzig Jahren ebenfalls bei zwei schwer verletzten Spielern zu einer Repatriierung in einem Linienflug mit meiner Begleitung geführt hatte. Wie schnell doch die Zeit vergeht, aber Erinnerungen noch viel schneller wieder hochkommen, insbesondere bei dramatischen Ereignissen. Einmal mehr ist aktuell meine Hoffnung auf eine Heli-Landung bei unserer Klinik trotz vorhandenem Landeplatz entschwunden. Dass ich aber gleichentags noch sowohl eine Landung als auch einen Start vor unserem Bürofenster erleben sollte, weiss ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Kann eine Angina normal sein? Wenn wir am Vortag eine Patientin bei uns hatten, bei der sich die Mandeln bei beginnendem Abszess berührten und kaum noch den Speichel durchliessen, und die infolgedessen stationär aufgenommen wurde, so ist das Leiden der aktuellen Patientin mit erheblich schmerzender Angina beinahe eine Bagatelle dazu, auch wenn die Entzündungswerte im Blut um das Fünffache erhöht sind. Antibiotika rein und Patientin wieder raus, heisst die Devise bei der sich anbahnenden Raumknappheit.

Doch sind es nicht nur die Räume auf der Notfallstation, die knapp werden, es sind auch die Betten auf den Abteilungen. Ich höre gerade am nachmittäglichen Bettenrapport, dass wir maximal noch je zwei Frauen- und Männerbetten zur Verfügung haben, und die IPS ohnehin schon voll sei.  Auf meine Frage, ob für den Mykonos-Patienten schon ein Bett reserviert ist, kommen wir wegen der Luft-Repatriierung auf unseren Helikopterlandplatz zu sprechen, der in diesem Moment noch ein Mauerblümchen-Dasein zu fristen scheint.

Neben kleineren und grösseren Bagatellen, wie Schnitt- und anderen Verletzungen, sowie sehr zeitintensiven Pflegenotfällen die alle durch die Assistentinnen erledigt werden, trifft jetzt tatsächlich die Ambulanz vom Flughafen Zürich ein. Es handelt sich um einen Fussballspieler, den ich von früheren Zeiten her kenne, der das Pech hatte, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, und von einem wahrscheinlich betrunkenen Autofahrer angefahren wurde. An den schweren Weichteilverletzungen und der Trümmerfraktur des Innenknöchels und des Wadenbeins ist ersichtlich, dass dieses Auto leider nicht im Schrittempo den Kollisionskurs provozierte. Infolgedessen kann auch keine Operation erfolgen, sondern es muss vorerst viel Zeit zur Hochlagerung, Abschwellung und Ruhigstellung benötigt werden. Der immer noch Zweitliga-spielende Fussballer scheint Fussball-untypisch die Geduld zu haben, wahrscheinlich auch, da er unglaublich froh ist, dem traumatisierenden, heissen und offenbar nächtlich gefährlichen Griechenland entkommen zu sein.

Weniger Geduld bei immer weniger Zeit für die einzelnen Fälle hat langsam der Doc, zumal immer noch viele telefonische Nachfragen so quasi an den Briefkastenonkel erfolgen. Dieses etwas andere Telefon des ärztlichen Kollegen betreffs seines Sohns mit Bauchschmerzen (was denn sonst) mit der Frage nach einem ultraschallenden Arzt, beantworte ich gerne positiv, da ich weiss, dass meine zu erwartende Dienstablöse nächstens eintreffen wird. Sein Sohn habe vor Wochen einmal bei Motorradfahren über Bauchschmerzen geklagt, die dann spontan wieder verschwunden seien, sie seien heute aber wieder vorhanden und lassen meinen Kollegen in Berücksichtigung des erhöhten Entzündungswerts an eine Blinddarmentzündung denken, was sich dann auch bewahrheitet hat.

Die von mir vor zwei Tagen gesehene, ängstliche Patientin mit immer noch vorhandenen Entzündungszeichen wurde vom ambulanten medizinischen Zentrum erneut zugewiesen, und zwar zur stationären Aufnahme trotz fehlender Betten. Ein Antibiotikum-Wechsel auf wiederholte ambulante intravenöse Antibiotika-Gaben – wir sind schon wieder beim gleichen Medikament, das sich wie oben beschrieben jahrzehntelang bewährt hat – lässt sie bei deutlich zurückgehenden Entzündungswerten von der stationären Aufnahme abbringen.

Eine junge Dame mit Jahrgang 1998 und vor Aufregung und Stress rotem Kopf, die gerade mit der Rettung gebracht wird, wäre zwar damals als Merlot-Traube im Bordeaux-Gebiet zu einem grandiosen Grand Cru Classé gereift, doch ist aktuell in der überwässerten Schweiz eher Trübsal und Mehltau angezeigt. Die Patientin denkt im Moment jedoch keinesfalls an süsse Oechslegrade sondern vielmehr an ihre vor zwei Stunden akut aufgetretenen, stärksten Periodeschmerzen, die sie zu Hause mehrmals kollabieren liessen. Die Aussage, dass sie einen solchen Schmerz in den vergangenen Zeiten noch nie gehabt habe, und die Tatsache, dass auf der anderen nicht schmerzhaften Seite angeblich eine Eierstockzyste vorhanden sei, lässt den diensthabenden Radiologen mit wegen des verschobenen Feierabends wenig strahlendem Gesicht nach Schwangerschaftsausschluss computertomographische Röntgenstrahlen zur Diagnostik der geplatzten Zyste aussenden. Und schon wieder fährt eine Ambulanz mit einem Bauchschmerzpatienten und angekündigter Nierenkolik vor. Zum Glück ist bei uns Schichtwechsel angezeigt, und ich freue mich auf den wahrscheinlich verdienten Feierabend. Noch schnell die Hand auf den Bauch auflegen und schauen, ob die linke oder die rechte Niere schmerzt, so dass der Kollege das sogenannte Stein-CT anmelden, und ich dem Bauchschmerztag rechtzeitig entfliehen kann. Ein rasender Schmerz im Bauch bei schmerzfreien Nierenlogen lässt an anderes als Steine denken. Zum Glück ist der heute noch unverbrauchte Kollege sehr Ultraschall-erfahren und greift sofort zum Gerät. Ein grosses Aneurysma der Bauchaorta, das gerade am Einreissen sein dürfte, lässt alle Alarmglocken aufläuten. So wird der Helikopter-Landeplatz tatsächlich aktiviert, in dem dieser Patient in der kürzest möglichen Zeit in der Universitätsklinik Zürich angemeldet und dorthin überflogen wird. Bauchschmerzen haben nicht immer viel Zeit.